HANDSCHLAG DER TIDE – summa terrestris

Eine Frau am Meer – ein Mann in den Bergen. Nichts verbindet sie. Er steigt einem Gemsbock nach, sie zählt Vögel. Sie wird vom steigenden Wasser bedroht, er von bröckelndem Gestein. Sie wissen nichts voneinander und werden sich wahrscheinlich nie begegnen.

HANDSCHLAG DER TIDE – summa terrestris – erzählt die Geschichte zweier Landschaften, der Glarner Alpen und des Nordfriesischen Wattenmeers, in denen der Mensch nur als randständiges, wetterleuchtendes Element existiert. Das Glarnerland ist ein in sich geschlossenes Gebiet der Gesamtalpen mit einer ungewöhnlich hohen Dichte von Geotopen, Zeugen der Erdgeschichte. Das Wattenmeer ist eines der weltweit größten gezeitenabhängigen Feuchtbiotope. Sein Name leitet sich vom altfriesischen Wort „wad“ für „seicht“ ab. Es besteht aus einer zusammenhängenden Fläche aus Schlick- und Sandwatt mit zahlreichen anderen Lebensräumen wie Salzwiesen, Marschflächen, Dünen usw. Die Gegensätze in der Oberflächenbeschaffenheit beider Landschaften bilden die Geschichte. Gemeinsam ist beiden Landschaften das Unstete, Flüchtige: Wind und Wasser, Sand und Geröll; aber auch das Stete, Wiederkehrende: Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Sommer und Winter. Die beiden literarischen Figuren, die Halligfrau Oonagh am Wattenmeer sowie der Jäger Meinrad im Glarnerland, repräsentieren das Geschehen stellvertretend für ihr soziales und historisches Umfeld in einer archaischen, archetypischen Form.

Beide Landschaften gehören zum UNESCO-Weltnaturerbe: die Glarner Hauptüberschiebung (Tektonikarena Sardona) seit 2008, grenzüberschreitend das Wattenmeer zwischen der holländischen Insel Texel und der Nordspitze Sylts seit 2009, erweitert um den dänischen Teil der Nordseeküste seit 2014.

HANDSCHLAG DER TIDE – summa terrestris – ist eine Sammlung von 144 kurzen Prosatexten. Jeder Textteil nimmt einen Bestandteil aus einer Landschaft auf und schließt ihn nach 144 Worten wieder ab. Informations- oder Sinnträger ist die formale Gleichheit, eine quasi mathematische Sturheit. Die Form folgt einer synchronen Struktur, der Inhalt losen Fakten, Assoziationsketten oder Fantasiebildern.

Judith Arlt, Handschlag der Tide. Weinheim, Achter Verlag 2023. Biobliophiles Geschenkbuch, 160 Seiten, Hardcover, Halbleinen, Fadenheftung, Lesebändchen. ISBN 978-3-948028-17-6

Preis: 18 €

Wird nicht in Plastikfolie eingeschweißt ausgeliefert!

Zu beziehen in Meldorf im Peter Panter Buchladen

Zu bestellen für Auswärtige direkt beim Achter Verlag

——————————————–

LESEPROBE – 2 Episoden zu je 144 Worten:

Das Hochgebirge

schläft nie. Seine Nachbarin ist die eifersüchtige Gottverlassenheit. In jedem Geräusch wittert sie Gefahr. Wenn der scharfe Ruf einer Alpendohle an die Giebelwand schlägt oder der Eisenklöppel an die Feuerglocke. Wenn im Durnachtal ein Jungadler die Schwingen ausbreitet und über dem Tobel kreist. Wenn Vento die Zweisilbigkeit mobilisiert. Das Ende kommt von oben und jede Warnung zu spät. Stein fällt schneller als Ton. Auch Schnee drückt und deckt im Nu. Wie Feldspattrümmer, Hagelkörner oder Schlammlawinen. Die Pupille bleibt schreckgeweitet, die Netzhaut stumpf. Der Abbruch hüllt sich in Staub. Vom Tierfehd aus stellt Meinrad einem Gemsbock nach. Er kennt die Wechsel über Selbsanft. Durch schrofige Rinnen zum Gratabsatz. Noch verhindert die Höhenströmung Wolkentürme. Die Doppelflinte an der Schulter steigt er zum spaltenarmen Limmerenfirn auf. Über Schuttbänder, Schneefelder, Gletscherschliffplatten. Das Fell will er modisch färben, aus den Hörnern Stockgriffe schnitzen und das Fleisch verkaufen.

Sinkstoffe

kommen mit dem auflaufenden Wasser und bleiben bei einsetzender Ebbe. Sie versorgen das Mischwatt mit Sand, Schalenteilen und abgestorbenem Plankton. Im Wattenmeer sind Sinkstoffe unverzichtbar wassergetragene Baustoffe für die Anlandung. Auf dem Festland verstopfen luftgetragene Staubpartikel die Lungenbläschen der Menschen so lange, bis die Städte leer sind. Das Mischwatt liegt zwischen Sandwatt und Schlickwatt. Es ist der Lebensraum von Wattwürmern, Wattschnecken, Wattmuscheln und ihren durchziehenden Fressfeinden. Austernfischer stochern ekstatisch kreischend nach Herzmuscheln. Lachmöwen trampeln Seeringelwürmer aus dem Boden. Pfuhlschnepfen graben mit ihrem langen Schnabel nach Pierwürmern. Kiebitzregenpfeifer schlagen Alarm, wenn Vento auf Südwest dreht und wilder wird. Oonagh nickt und eilt nach Hause. Die Springtide fällt ihre Hütte von allen Seiten gleichzeitig an, verschlingt den Tag und die Nacht. „Landunter“ bedeutet „Meerüber“. Vento stakst breitbeinig zwischen Himmel und Erde und steppt eine feste Naht. Schaum tritt aus seinem Mund und die Sinkstoffe sinken.

© Judith Arlt 2023

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch