Der Maronenschneider

Der Maronenschneider ist kein Mann, sondern ein Werkzeug. Nützlich. Schont das Daumensattelgelenk. In seinen groben Rillen ruht die Marone. Sobald ich mit gerin­gem Kraftaufwand zudrücke, dringt die gezackt-geschliffene Klinge durch die äußere harte Schale und die innere bittere Samenhaut. Ich bin Herrin des Geschehens, die Maronenschneiderin!

Meine Mutter war in jungen Jahren Damenschneiderin. Glücklich, mitten im Krieg eidgenössisch zertifiziert, nahm sie Maß, zeichnete Muster, schnitt Stoffe zu und nähte Teile zusammen. Nur für das weibliche Geschlecht, versteht sich. Hosen hat sie zeitlebens nie genäht und nie getragen.

Ich bin Maronenschneiderin aus purer Not. Ohne Ausbildung, ohne Zertifikat. Ohne Krieg. Ohne Glück. Aber mit einer sicheren Zukunft. Der Baum in meinem Garten entwickelt sich prächtig. Von Jahr zu Jahr wird er mächtiger und wirft mehr Früchte ab. Pünktlich zu meinem Geburtstag fangen sie an zu fallen. Dann sind sie reif und ich suche stundenlang, tagelang, wochenlang gebückt den Rasen ab. Sortiere mit Handschuhen stachelige Fruchtkapseln aus, sammle eimerweise Nüsse. Möglichst im Morgengrauen. Ehe die Kolkraben aufwachen und ihr unverschämtes Krächzen in die Baumkrone einbricht.

Maronen sind Früchte der Edelkastanie und gelten in der Fachwelt als Nüsse. Angeb­lich haben sie doppelt so viel Stärke wie Kartoffeln, man braucht also nur halb so viel zu essen und wird trotzdem satt. Ich füge nichts zusammen wie Mutter, sondern haue ein Kreuz in die gewölbte Oberfläche der rohen Nüsse. Damit beim Kochen der Druck entweichen kann. Damit die frischen Früchte unter der Hitzeeinwirkung nicht explodieren. Damit die harte Schale aufplatzt. Mutter stellte Schnittmuster her, han­tierte mit Maßband und Stecknadeln, Bleistift und Stoffkreide. Nie verletzte sie eine ihrer Kundinnen. Sie besaß verschiedene Schneiderinnenscheren und achtete sorg­sam darauf, dass sie nie mit der Stoffschere das Musterpapier zerschnitt.

Jahrelang habe ich meine Arbeit ohne Maronenschneider verrichtet. Das ging auch. Mit einem scharfen Küchenmesser. Mutter konnte auch ohne Nähmaschine nähen. Sie lernte alles zuerst von Hand. Den Wolldeckenstich. Den Grathexenstich. Den langgezogenen türkischen Kreuzstich. Den schräg gearbeiteten Überwindlingsstich. Den gleichlaufenden Waffelstich. Den einfachen versetzten Zusammenziehstich.

Ich bevorzuge das Kochen. Es ist Energie- und Zeitsparender als das Rösten. Und die Maronen trocknen nicht aus. Solange sie feuchtheiß sind, kann ich die Haut aus den tiefen Kerben des Fruchtfleisches heben. Ich verbrühe mir zwar die Fingerbeeren. Aber an bereits wieder erkalteten Segmenten bleibt alles Bittere erbarmungslos kleben. Noch habe ich keinen professionellen Maronenschäler gefunden.

„Marroni-Fresser“ ist im Land, in dem Mutter ihr Fähigkeitszeugnis erlangte, ein Schimpfwort. Ein Synonym für „Spaghetti-Fresser“. Überall auf der Welt gelten Maro­nen als Delikatesse. Alle Kinder lieben Spaghetti. Nur Helvetias Töchter und Söhne meinen, Gastarbeiter aus dem Süden so verunglimpfen zu dürfen.

Die erste und einzige Nähmaschine kaufte Mutter im Sommer 1950. Die Rechnung – ich fand sie kürzlich auf dem Dachboden – mit blauer Tinte von Hand auf ein vorge­drucktes A-4-Formular gebracht, datiert vom 15. Juni. Eintausend Einhundert und drei Schweizerfranken. Quittiert mit schwarzer Tinte am Tag danach. Mutter bezahlte bar mit zwei Prozent Skonto eine Bernina Nähmaschine Klasse 117, Zick-Zack, Nr. 360934. Modell 37 Heimatstil. Mit kompletter Rieseneinrichtung. Lese ich und reibe mir ungläubig die Augen. Woher hatte sie das Geld? In der Lehre, erzählt sie, ver­diente sie im ersten Jahr fünf, im zweiten zehn, im dritten 15 Franken pro Monat. Nach der Lehre arbeitete sie auf der Stör. Wie mein Schuhmacher. Bekam pro Tag zwischen acht und zwölf Franken sowie ein Mittagessen.

Ich ließ mir kürzlich siebzehn Tage Zeit mit der Onlineüberweisung der Kosten für meinen ersten und voraussichtlich einzigen Maronenschneider. Federleicht, aus ma­hagonibraunem Plastik mit Zick-Zacken wie Mutters Bernina, kam er eingepackt in zwei Kilo Papierwerbung. Das Porto war teurer als die Ware. Ich hatte versucht, den Maronenschneider beim lokalen Haushaltwarenhändler zu erwerben. Aber der kannte nicht einmal das Wort. Geschweige denn den Baum. Noch seine Früchte und die An­forderungen, die sie an eine einfache Frau wie mich stellen. Das ist nicht verwunder­lich. Wir leben im Norden. Jenseits des wissenschaftlich nachgewiesenen Verbrei­tungsgebiets der castanea sativa. Hier gibt es keine Eindringlinge aus dem Süden. Nur in meinem Garten gedeiht eine trächtige Edelkastanie.

Damals war eine Nähmaschine ein Möbelstück. Füllte ein halbes Haus und ein ganzes Leben. Hatte tiefe Schubladen, Faden-, Nadel und Spulenablagen sowie Geheimfä­cher für Stoffreste und Liebesbriefe, Musterbögen, Schablonen, Oberweiten und Ärmellosigkeiten, Zeugnisse, Heimatschein, die Faktura der Imprägnieranstalt Zofin­gen für ein Zylinderfass aus Buchensperrholz mit Stülpdeckel ohne Knopf, oder Aus­steuerrechnungen, Oberbetttücher, gebleicht mit Zwirn und gesticktem Monogramm zu so saftigen Preisen, dass mir heute in Meldorf die Haare zu Berge stehen.

Meldorf liegt auf dem 54. Breitengrad. Nördlich des 48. Breitengrades, sagt mein Baumbestimmungsbuch, reifen die Früchte der Edelkastanie nicht mehr regelmäßig.

© Judith Arlt, Meldorf, 1. November 2014

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