coming up: 2021 – 05 – 22, sunset, Smoky Hills

Stellen Sie sich vor, ich würde meine gefleckte Schnirkelschnecke fragen, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. Oder die Mangrovengrille. Den Axolotl. Den ordinären Feldhasen, der regelmäßig meinen Weg zur Arbeit kreuzt. Wenn ich durch die Heide presche. Und er im selben Moment vom Kartoffelacker ins Rapsfeld wechselt. Die Suppenschildkröte, mit der ich aus lauter Langeweile Blickkontakt aufnehme. Während ich Weißkohl hoble in der Sauerkrautfabrik. Oder, endlich angekommen, einen der wenigen heute noch lebenden Gangesgaviale.

Ich wüsste nicht einmal, in welcher Sprache ich meine Frage stellen sollte. Die nord­amerikanische Siebzehnjahr-Zikade kann ich nicht zurate ziehen. Sie ist meine engste Vertraute. Aber die gesamte Population liegt gerade erst im sechsten Jahr des Larvenstadiums. 30 Zentimeter unter der Erde. Saugt an den Wurzeln der Schindel­borkigen Hickorynuss und ist sicher vor jedem unerlaubten Lauschangriff. Das beruhigt mich. So muss es sein. Die innere Überlegenheit dieser Art ist nicht korrumpierbar. Allein sie, die Periodische Zikade hat den praktischen Nutzen der Primzahl für die Evolution erkannt. Lange vor Euklid. Und ohne etwas zu ahnen von einem Widerspruchsbeweis. Ich glaube, Larven sehen keinen Sinn in der Semantik von Wörtern wie Widerspruch oder Beweis und quittieren deshalb deren lexikalische Verschmelzung als reine Verschwendung. Seither verfolgt die Seventeen year locust mit den auffällig roten Facettenaugen eine erfolgreiche Strategie zur Arterhaltung. Nur alle 17 Jahre, ihr Name besagt es in jeder Sprache jedes Menschen, tritt sie für wenige Wochen an die Erdoberfläche. Nicht um Maulaffen feilzuhalten oder anderem Luxus zu frönen. Nein, um sich fortzupflanzen! Massenhaft, trillionenweise, so laut, dass die Wände des Weltalls erzittern. Sie verzichtet dabei auf jegliche Neben­tätigkeit, nimmt keine Nahrung zu sich, braucht weder Freizeit noch Schlaf. Sie liebt. Das Männchen stirbt unmittelbar nach der Paarung, das Weibchen erst, wenn es die befruchteten Eier abgelegt hat. Dies ist kein Honiglecken. Es sind an die 400 fragile Organismen, die einen Parasitenfreien Ort brauchen. Mit dem Legesäbel ritzt das Weibchen nach dem Liebessturm geduldig Spalten in die Äste von Jungbäumen. Verteilt die Eier im Dutzend. Und stirbt. Herr Euler, wie viele Eiablageschlitze muss ein Siebzehnjahrzikadenweibchen pro Brut sägen? Die Larven schlüpfen nach sechs bis acht Wochen und wachsen ohne jeden Zuspruch auf. Fallen zu Boden. Kriechen in die Erde. Zapfen mit ihren Saugrüsseln Leitungsbahnen verschiedener Gehölzer an. Ernähren sich von aufsteigenden Säften. Und schweigen siebzehn Jahre lang.

Ich wurde zu Beginn eines Jahrhunderts in der Neuen Welt geboren. Meine Mutter musste meinetwegen aus der Alten Welt fliehen und lernte sprechen. Immer schon ertrugen die Menschen die Scham schlecht. Trotzdem verzichtet niemand auf Zeit und Raum in seinem Pass. Nicht in der Zivilisierten Welt. Mutters Gutenachtgeschichten öffneten meinen Horizont. Schärften meinen Ordnungssinn. Meißelten, schliffen, polierten die Aussicht aus dem siebten Stock. Zersprengten jede Vorstellung, kaum war sie gewachsen. Einer Axt gleich fingen sie immer und immer wieder mit ein- und demselben Satz an. Oft schlief ich nach den ersten Worten schon ein. Nach dem ersten Luftholen, einer unbedachten Verschnaufpause zu Beginn. Einem vorausgeschickten Räuspern. Einem „… also …“, das ganz und gar nicht zur Geschichte gehörte. So stark wirkte allein das Ritual. Die Erwartung. Die Nähe. Mutters Stimme. Ihr Herzschlag in meinem Ohr. Die Vibration. Das Vertrauen. Die Wärme. Das Wohlwollen einer Welt, die nach Sonnenuntergang unerschüttert ins Lot zurückfiel. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Denn: „Eines Tages gingen der Bär und der Pinguin in den Wald …“

Nie fragte ich sie, wie es meinen Einschlafpinguin eigentlich in den Wald verschlagen hatte. Warum er nicht wie jeder normale Pinguin an der Packeisgrenze lebte. Warum er mit meinem Einschlafbären auf Tannennadelboden tanzte. Statt in der Weddellsee Tintenfische zu jagen. Warum er sich in einer Braunbärenhöhle Fischstäbchen auftischen ließ. Statt zur Brutzeit mit Seinesgleichen zum Hungermarsch über das Eis nach Oamok aufzubrechen. Warum er die absonderlichsten Abenteuer erlebte. Statt das einzige Ei seiner Partnerin in der unteren Bauchfalte warm zu halten. Warum er sich Späße mit einem Waschmaschinenerfinder oder einer Hubschrauberpilotin erlaubte. Statt die ersehnten ersten Schritte seines Kükens zu überwachen. Nie fragte ich sie, wo sie den Stoff für ihre Geschichten hernahm. Wie sie die Episoden fachgerecht zuschnitt. Aneinanderreihte. Ineinander fügte. Wie das Futter in den Ärmel. So, dass nichts heraushing. Und der Pinguin und der Bär jeden Abend aufs Neue müde wurden, ins Bett gingen und schon bald tief und fest eingeschlafen waren.

Mutter ist schon lange tot und begraben. Ich hätte sie auch zu Lebzeiten nicht fragen können. Nie wurde ich aus dem Paradies vertrieben. Nie musste ich sprechen lernen. Ich kommuniziere nur taktil.

Dann stürzen sich ihre natürlichen Feinde auf sie. Vögel, Hunde, Katzen, Eichhörnchen, Grabwespen, Spinnen, Raubwanzen und andere. Vertilgen die nackten Eiweißbomben. Verschlucken sich. Überfressen sich. Bis ihnen speiübel wird und sie sich angewidert abwenden. Dies ist der Sinn der Massenpopulation der Magicicada septendecim. Es bleiben immer genug übrig. Die Spezies überlebt. Menschen kennen zwar den Schmerz der Scham, nicht aber deren Grenze. Sie beobachten, erforschen und benennen das Phänomen: „Predator Satiation“. Übersättigung des Fressfeindes. Und bedienen sich dann seelenruhig selbst. Ausgerechnet Biologen entdeckten frisch geschlüpfte Siebzehnjahr-Zikaden als Delikatesse. Behaupten, sie schmeckten wie Elsässer Spargel. Weshalb sollte eine ausgewachsene Siebzehnjahr-Zikade, wenn auch auf mein inständiges Streicheln hin, freiwillig in die Haut eines Menschen schlüpfen wollen? Um die eigene Brut aufzufressen? Mit einem Schluck halb­trockenen Gewürztraminers nachzuspülen? Den Mund mit einer gestärkten Serviette abzuwischen? Um, gut genährt, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen, die amerikanische Sprache zu erlernen, eine amerikanische Karriere einzuschlagen? Im Stadtrat von Cincinnati durchzusetzen, dass jedes Jahr Ende Juni schweres Schneeräumgerät die toten Zikaden von den Straßen schaufelt? Dass in den Wohn­quartieren Müllcontainer mit der Aufschrift „Drop-off for Cicadas only“ aufgestellt werden? Dass nach Ablauf der Sammelfrist deren Inhalt an der Vine Street ins Reptiliengehege zu kippen sei? Der Mensch wird nie verstehen, wie es die Larven ohne cellphone, ohne twitter, ohne facebook fertig bringen, sich zu verabreden und pünktlich zu sein. Es muss nur ein bisschen geregnet haben im Mai. Der Boden darf noch nicht wärmer sein als 18 Grad Celsius. Und schon quellen sie hervor. Wie auf ein Geheimkommando. Brauchen knapp zwei Stunden, um sich aus dem Panzer zu schälen, erwachsen zu werden, Liebeskummer zu verspüren. Wie unter einem unsichtbaren Dirigentenstab versammeln sich die Männchen schnurstracks auf den Bäumen. Zu gewaltigen Chören. Stimmen mit den Trommelorganen am Hinterleib wellenförmige Gesänge an. Ihre Stridulationen, ohrenbetäubender als der Rasenmäher meines Nachbarn, locken die Weibchen in Scharen an. Ohne Rücksicht auf Ruhezeiten in der Nacht oder am Tag. Spornen sich die Männchen gegenseitig an. Je näher ein Weibchen kommt, desto intensiver wird das musikalische Werben. Ungestüm wie ein Propellerflugzeug. Das Weibchen bleibt sein ganzes Leben lang sprachlos wie ich. Es kann nicht singen. Weder allein noch im Chor. Es schnipst zur Antwort mit den Flügeln. Schnalzt mit seinem durchsichtigen Apparat. Das Männchen sieht die Schläge des Weibchens und hört sie. Ein nicht gleichberechtigtes Duettieren hebt an. Beide sind wählerisch und empfindsam. Jedes sucht das genetisch wertvollste Du. Die Partner finden erst nach langem Saitenzupfen zueinander. Dann wird es auf einen Schlag totenstill. Die Wollust erstickt jeden Laut.

Elf Jahre muss ich mich gedulden. Bis die Antwort sich einstellt. Ich gehe auf die Pirsch. Das Großmaul betätigt gerade seine Adduktormuskeln. Es ringt im Marafluss ein Streifengnu nieder. Bis das schlammige Wasser dessen Lungen füllt. Wie ein Fass ohne Boden. Die Regenzeit ist vorbei. Amphibisch lebende Tiere waren schon vor zweihundert Millionen Jahren in der Lage, körpereigene Jagdwaffen mit dem Tastsinn zu kombinieren. Solange der Kopf des Mississippi-Alligators auf der Wasseroberfläche liegt, nimmt er Beute aus jeder Entfernung wahr. Er muss sie weder sehen, hören noch riechen. Taucht eine durstige Antilope ihre Lippen in den Fluss, bringt sie das Wasser unweigerlich aus der Ruhe. Ein einziger bewegter Wassertropfen genügt, um die Sinneszellen im Unterkiefer des hungrigen Nilkrokodils zu erregen. Die Nerven­büschel unter den Knubbeln rund um sein Maul sind mit dem Trigeminus-Nerv verknüpft und orten präzise jede potenzielle Nahrung. Beim Menschen wandelt Stress diese Funktion in den größtmöglichen Schmerz um. Kein Glattstirnkaiman wird unter solchen Umständen an meinem Experiment teilnehmen wollen. Ich kehre mit leeren Händen nach Hause zurück. Am Gartentor erwartet mich die gefleckte Schnirkelschnecke. Sie weiß genau, was in ihrem Inneren passiert und braucht meinen Ratschlag keineswegs. Lustvoll empfängt sie Liebhaber und sammelt Spermien. Untertänige Dienerinnen, die Haarähnlichen Cilien verfrachten die Schätze in die Seitengänge ihrer Spermathek. Die Schnirkelschnecke ist ein Zwitter und schützt sich trickreich vor Selbstbefruchtung und Inzucht. Sie wählt nur Samen aus, die ein vielfältiges Individuum hervorbringen. Mir kann sie trotzdem nichts vormachen und zieht sich in die Ligusterhecke zurück.

„Postmating Sexual Selection“, sagt die Fachwelt. Auswahl des Geschlechtspartners nach der Kopulation. Oder: „Cryptic Female Choice“. Kryptische Weibchenwahl. Wussten Sie nicht, dass auch die Skorpionsfliege sich so fortpflanzt?

© Judith Arlt 2010

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch