111 Jahre, nachdem ihr Grossvater seine eigene Schuhmacherwerkstatt in Menznau eröffnet hat, legt Frieda Fölmli die Leisten für immer weg.
111 Jahre lang haben die Fölmlis im Napfbergland Schuhe repariert.
111 Seiten mit je 111 Wörtern braucht Judith Arlt, um die letzten Tage der Fölmlis als Schuhmacher literarisch zu begleiten und unseren Schuhkonsum kritisch zu beleuchten.
Facettenreich – Ungewöhnlich – Schuhaffin
„Die Idee, einen Text zu schreiben, der formal mit der Zahl von 111 Jahren spielt – 111 Texte mit jeweils 111 Wörtern – gefällt mir gut. Die Verknappung als Stilprinzip mündet so folgerichtig in die Wertschätzung des Assoziationsraums, den die Texte eröffnen. Sie wirken wie vielschichtige, in vielen Farben leuchtende Facetten, in denen Frieda, das Du der Erzählerin, in das Buch tritt. Es geht um ihr Leben, ihre Vorfahren und Verwandten, ihre Liebe zum sorgfältigen Handwerk und die Verbindung zur Kunst. Viele der Texte funkeln regelrecht und lösen im Leser vielerlei Gedanken und Bilder aus, wirken mit ihren Pointierungen erhellend. Und ich denke weiter über Gangarten nach: Gangarten von Frauen, denen Frieda ein Vorbild ist – als kreative, selbständige Handwerkerin, als Wortführerin, als Gärtnerin, als Schwester und Freundin.
Die Texte erwecken eine Vielfalt von Eindrücken: Trauer um die bedrohte Existenz eines guten Handwerks, Anteilnahme an einer alternden Frau, die sich von ihrem heute anachronistisch wirkenden Beruf verabschiedet, Bewunderung für ihren unabhängigen, mutigen Berufsweg, ihre Gangart!, und für ihre Kreativität und die Vielfalt und Qualität ihrer Schuhe. In manchen Texten erwachen die Dinge zu eigenem Leben: Den Schuhen gehört das Haus! Den Traumpaaren! In vielen Texten tritt Frieda als Familienmitglied auf und die Kontinuität der Tradition und Zusammengehörigkeit werden fühlbar deutlich. Die Texte fesseln mich, ich habe gern immer weiter gelesen, wollte immer mehr wissen und mein Bild von Frieda und ihrem Leben gewann immer mehr Farben.“ (Barbara Handwerker)
Textprobe – die letzten Tage der Fölmlis:
Das Haus gehört nun den Schuhen. Kokett stehen sie im Schaufenster auf Granit, locken einzeln oder paarweise von den Glasablagen, balgen auf den Drehständern vor der Ladentür. Dahinter, im Verkaufsraum, in der Werkstatt, im Treppenhaus, auf jeder Treppenstufe nach unten oder oben, in den Lagerkellern und in den Wohnräumen, geht es gesittet zu und her. Alle deine Bequemschuhe sind in Schachteln staubfrei aufgestapelt. Größe, Weite, Farbe, Preis, Geschlecht und Jahreszeit lesen wir, du und dein Aushilfspersonal vom Papieretikett an der Stirnseite ab. Der Totalausverkauf hat gestern begonnen. In allen Zimmern, in denen früher geschlafen, geschwatzt, gegessen, gelacht, geweint wurde, warten jetzt Schuhe mit Überraschungen auf. Atmungsaktive Fußschmeichler. Bunte Blumenmuster. Zweisprachige Laufsohlen.
Du bist die Letzte. Die letzte, die in der Werkstatt noch hämmert, klebt, presst und nach Feierabend müde in der Küche sitzt. Die letzte, die Füße lesen kann wie andere Bücher. Du weißt genau, warum der Schuh drückt und wo. Eine war immer die Letzte. Meistens eine der Mütter, Rosa, Frieda oder Luzia, Ruth, Martha, Margaritha, Brigitte. Eine trat immer als letzte durch die Tür auf den Vorplatz, wo alle anderen warteten. Die immer größer werdende Familie. Auf dem Weg in die Kirche, ins Lamm oder auf den Menzberg. Nun bestreitest du allein die letzten Tage der Fölmlis. Bedienst Kunden, zählst Schuhe, räumst das Lager im Schuhhaus von oben nach unten.
Die letzten Tage der Fölmlis bedeuten die letzten Tage des Schuhhandwerks im Luzerner Hinterland. Die Fölmlis sind Meanznauer Schuhmacher und „Die Fölmlis“ ist der Titel ihrer einhundertjährigen Erfolgsgeschichte. Eine romanhafte Familiensaga wie die „Buddenbrooks“, aber ohne Untergang und ohne Thomas. Nur Judith und drei Generationen: Anton der Erste, Anton der Zweite oder Toni, und Frieda. Du bist Frieda, meine Schuhfrau – die erste Schuhmacherin im Napfbergland, nach Mutterfrieda die zweite Frieda im Schuhhaus und nach den beiden Antons die dritte Generation in der Werkstatt. Ich bin Judith, deine Wortfrau. Zusammen schreiten wir nun das zweite Jahrhundert der Fölmlis ab. Es ist natürlich kürzer als das erste, denn du hast die Gangart verändert.
Was aber ist das Ende einer Geschichte ohne ihren Anfang?
Die ersten 100 Jahre der Fölmlis kannst Du hier nachlesen!