Koordinaten: 54° 05′ 34.534″ N, 9° 05′ 43.991″ O
Hallo, ich bin Rasputin! Jedenfalls nennt mich meine Mia so und ich höre dann auf sie. Sie hört auf mein Miauen, deshalb nenne ich sie Mia. Auf dem Bild sitze ich an meinem Sehnsuchtsort – auf Mias Schreibtisch. Ihr wundert Euch, wie ich da hinkomme? Das ist ganz einfach: mit hopps! Sprungbeine anlegen, kräftig vom Teppichboden abstoßen und oben bin ich. Manchmal, wenn ich noch zögere, ermuntert mich Mia, die ja jetzt immer daneben sitzt, klopft auf die Tischplatte und sagt: „Na, hoppsdihopps!“ Und hopps! Da bin ich. Was aber ein Sehnsuchtsort ist und was ihn von anderen Orten unterscheidet, das ist sehr sehr sehr viel komplizierter zu erklären.
Ich sitze gerne auf Tischen, so habe ich den besseren Überblick. Meine frühere Mia hat mich, glaube ich, aus dem Gefängnis befreit. Das ist lange her. Groß geworden bin ich in der Großstadt. In der Gosse. Mit einer brutalen Gang. Irgendwann landete ich halbtot auf einem Tisch und fiel in einen tiefen Schlaf. Als ich wieder aufwachte, war ich in Heidelberg hinter Gittern und der Bauch tat schrecklich weh. Ich konnte nichts sehen, mich weder putzen noch die juckenden Stellen lecken. Mein Kopf steckte in einem monströsen Plastikteil. Nach ein paar Tagen tauchte die erste Mia auf und nahm mich mit in ihre warme Stube. Beim Essen saß sie in der Küche am Tisch. Ich durfte ihr Gesellschaft leisten und bekam mein Futter auch auf den Tisch. Kaum waren wir fertig, stand sie auf und machte sauber, wie sie sagte, denn sie redete mit sich selbst. Ich floh dann ans andere Ende der Wohnung. Raus konnte ich nicht.
Die neue Mia hingegen verbringt Stunden, Tage, Nächte schweigend an diesem langen Tisch, von dem sie nun die Hälfte für mich freigeräumt hat. Die bessere Hälfte! Vor dem Fenster und an der Heizung. Ich kann auf das Fensterbrett steigen und auf die Straße hinunter gucken. Oder oben am Himmel verfolgen, was dort los ist. Als die Mia noch vor dem Fenster saß, musste sie vormittags immer die Augen zukneifen und die Jalousie herunterlassen. Was für ein Unsinn! Sie sah ja gar nichts mehr! Nun liegt eine weiche Decke für mich vor dem Fenster und Mia kann daneben mit offenen Augen und ohne Schmerzen arbeiten.
Nur einmal ganz am Anfang war die neue Mia nicht nett. Ich sprang gerne auf ihre Schreibtischhälfte hoch und spazierte von dort auf meine hinüber. Ich war neugierig, was sie tut mit ihren Fingern, wie es riecht und ob in dem Fenster, auf das sie die ganze Zeit starrt, auch Vögel herumfliegen. Sie sagte immer ein Wort, nur eines, scharf und ziemlich laut. Ich konnte es beim besten Willen nicht verstehen. So etwas wie Ei, aber es war nicht zum Fressen. Und dann hat sie mich eines Morgens – stellt Euch das einmal vor! – von hinten, ich saß bereits auf dem Fensterbrett und träumte in den Kastanienbaum hinein, von hinten! mit kaltem Wasser bespritzt! Ich war so perplex, dass ich die Treppe hinuntersauste und den kürzesten Weg aus der Klappe nahm. Erstmal durchatmen! Und dann Fellputzen! Meine Freunde im Gebüsch verrieten mir, dass ich das lieber sein lassen sollte. Das Ding heiße Tastatur oder Bildschirm, und sei den Menschen heilig. Seither respektieren wir, ich und die neue Mia, unsere Hälften auf dem Sehnsuchtsort. Wenn sie einmal versehentlich ein Buch oder ein Blatt Papier auf meine Seite legt, entschuldigt sie sich und nimmt es sofort weg.
Wenn sie Besuch hat, sitzen wir unten im Wohnzimmer. Ich lege mich dann zwischen sie und den Besuch und höre aufmerksam zu, was sie erzählt. Sie habe mich aus dem Internet, sagt sie immer. Dieses Wort kannte ich nicht und fragte in der Nacht die Kumpels in der Feldmark. Sie erklärten, das Internet stecke in dem Ding auf dem Schreibtisch. Ich wollte wissen, ob es Teil der Sehnsucht sei oder ein eigener Ort? Ich hatte ganz vergessen, dass ich nicht mehr in Frankfurt bin, sondern mich hier mit Dithmarscher Scheunenschönlingen treffe, die außer Schafweiden höchstens noch Kuhmist kennen. Sie lachten sich den Buckel voll, wiederholten stotternd Seeehn… seen …se… se… was? Su…su…sususucht? Das war für ihre Begriffe spanisch! Ich trabte hoch erhobenen Hauptes von dannen und legte mich zu Füßen meiner Mia. Sie gesteht ihren Besuchern, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Zwei Dinge hätten sie auf Anhieb an mir fasziniert: mein Name und mein rabenschwarzes Fell.
Eines Tages ist meine alte Mia am Tisch in der Küche sitzen geblieben. Ich stupste sie an, miaute, aber sie atmete nur ruhig weiter. Wie nachts im Bett. Mio kam, der junge Mann, der Mia immer besuchte. Er schrie aufgeregt, rüttelte und fuchtelte, redete mit Leuten, die gar nicht da waren. Ich saß auf der Anrichte in Sicherheit und ließ den Tisch nicht aus den Augen. Dann kamen viele Männer, die alle sehr unangenehm rochen. Sie legten die Mia auf ein Bett, das sie mitgebracht hatten, und trugen sie aus der Tür. Dann war es still. Mich hatten sie vergessen.
Die neue Mia stellte mir einen Stuhl vor den Tisch, nachdem ich einmal an der Schreibtischkante abgerutscht bin und mir fast das Vorderbein gebrochen hätte. Ich bin nicht mehr der Jüngste und sie macht sich zurecht Sorgen um meine Gesundheit. Seit ich bei ihr lebe, wollte ich nämlich schon zweimal sterben. Einmal mochte ich nicht mehr fressen und einmal hatte ich mich bereits auf die Reise gemacht. Deshalb ein Stuhl mit Kissen, damit ich es weich habe, falls ich mich ausruhen muss auf dem Weg an meinen Sehnsuchtsort. Dann hat sie gemerkt – sie ist ziemlich schlau! – dass ich, sobald sie aufsteht und nach unten geht, um Tee zu kochen, oder weil die Biokiste kommt, dass ich mich dann unverzüglich auf ihren schwarzen Schreibtischstuhl lege. Einmal hat sie sich fast auf mich gesetzt, so in Gedanken versunken war sie die Treppe hochgekommen. Seither passt sie auf, krault mich hinter den Ohren und fragt: „Und wo soll ich mich jetzt hinsetzen?“ Eine rein rhetorische Frage! Die Antwort hat sie selbst gefunden: in Form eines roten Wackelhockers ohne Rückenlehne. Auf den werde ich mich nie im Leben legen, und sie sagt, sie könne sich darauf viel besser konzentrieren. Vor allem aber stöhnt sie nun nicht mehr, wenn sie sich nach der Arbeit ins Bett legt.
Sie hat für alles ihre eigene Erklärung und ich respektiere das. Ich kam natürlich nicht aus dem Internet, sondern über die A1. Mio hat mich gefahren, mit meinem ganzen Hab und Gut. Als die neue Mia in ihrem Flur die Transportbox öffnete, bin ich sofort die Treppe hochgelaufen und auf den erstbesten Tisch gesprungen. Das war ihr Schreibtisch! Mein Schwanz fegte vor Aufregung einiges hinunter. Aber das war nicht weiter schlimm, die neue Mia wusste dann gleich, wieviel Platz ich brauche. Vom Fensterbrett aus beobachtete ich, wie unten auf der Straße das Auto vom Haus wegfuhr. In dem Moment begriff ich, dass ich angekommen bin, an meinem Sehnsuchtsort! Obwohl ich ihn nie gesucht habe und nicht ahnte, dass es ihn gibt. Versteht Ihr das?
postscriptum: Herr Rasputin – so nenne ich ihn, denn er ist ein Kater mit Charakter – musste von seinen Altersbeschwerden erlöst werden. Er trug sein Schicksal mit Würde und verabschiedete sich rechtzeitig von den Nachbarshunden, den Vögeln, Mäusen, Schmetterlingen, Fliegen, Spinnen, Gräsern, den Blumen, Brombeeren und allen Bäumen, vom Wind und von der Sonne überm Wattenmeer. Herr Rasputin war ein echter Gewinner der Corona-Pandemie, denn ich, seine neue Mia, saß die letzten sechs Monate ununterbrochen zu Hause am Schreibtisch. Er liebte das freie Leben und die Katzenklappe erlaubte ihm ein Kommen und Gehen nach eigenem Gutdünken. Wenn er aber kam, wollte er begrüßen und begrüßt werden, um die Beine streichen und über den Rücken gestreichelt werden.
© Judith Arlt 2020
veröffentlicht in DLZ, Weihnachts- und Neujahrsglückwünsche 2020, 24.12.2020, S. 2