Sehnsuchtsort: Japsand

Koordinaten: 54° 34′ 0″ N, 8° 28′ 0″ O

Japsand begradigt
Auf dem Weg zum Japsand

Er liegt am Ende einer langen Reise. Das letzte Stück gehe ich barfuß und nie allein. Ohne Gepäck, in Shorts, einem langärmeligen Shirt und mit Sonnenhut. Die hauchdünne Regenwindjacke steckt zusammengefaltet in der Gesäßtasche. Wir laufen zwei Stunden vor Niedrigwasser an der Halligkante los. Hinter uns die Lorenzwarft: zwischen den Deichsteinen klemmen unsere Schuhe. Vor uns die Ewigkeit: zäher Schlick, Seegraswiesen und Algenteppiche, Mischwatt mit harmlos kräuselnden Verästelungen bis zum breiten Priel, der bei starkem Südwest noch so druckvoll ist, dass wir bis zu den Hüften im Wasser um unser Gleichgewicht ringen, während die Kinder auf den Schultern ihrer Väter vor Begeisterung in die Hände klatschen.

Jenseits des Priels wird der Untergrund strukturierter. Die Sehnsucht wacht unter den Fußsohlen auf, angeregt von trittfesten Wellenrippeln. Das Gezeitenmuster bestimmt, wann wir den Meeresboden betreten können, auch das Tageslicht natürlich, die Hochwetterlage oder die Jahreszeit, nie aber unser eigener Kalender. Begleitet werden wir von zwei Schutten – blutjungen Freiwilligen der Schutzstation Wattenmeer. Sie geben das Tempo und die Richtung vor, tragen einen Rucksack mit dem Nötigsten, Tafeln, Karten, Verbandskasten, Notfalltropfen, Luftpumpe und Stativ. Sie wissen, was sie bei Bedarf als Blitzableiter in diese irrlichternde Endlosigkeit rammen und wie sie uns aus Schlickfesseln befreien können. Seenebel oder Hitzegewitter kommen immer unangemeldet.

Der Japsand ist der jüngste, kleinste und dynamischste der drei nordfriesischen Außensände. Seine Koordinaten sind Mittelwerte, die Ausmaße Schätzungen. Die Schutten messen, zählen und korrigieren ständig. Im Windschatten der ersten grünen Stängel plustert sich der Sand auf und beginnt zu wandern. Sturmfluten überspülen ihn immer seltener. Paul, der Schutte sagt, dass er im Herbst noch den alten Kirchturm von Pellworm anpeilte, mittlerweile müsse er, um auf Kurs zu bleiben auf die Entfernung rechts mindestens eine Handbreit zugeben. Betreten dürfen wir nur den nordöstlichsten Zipfel. Der Rest – ungefähr drei Quadratkilometer Sand, an der höchsten Stelle fast einen Meter über das mittlere Tidenhochwasser hinaus gewachsen, ein Hochsand also, mehr als eine Sandbank, weniger als eine Sandinsel, mit einzelnen flachen Primärdünenfeldern und Strandhaferbüscheln – gehört den Seehunden und Seevögeln.

Meine Sehnsucht greift dort, wo die Füße nicht mehr im Matsch versinken. Wo Ton und Schluff, vermischt mit Resten des Salzwasser nicht mehr muffig durch die Zehen hochquellen. Wo die Ballen plötzlich sauber und trocken sind. Mein Staunen kommt immer zu spät, der Übergang ist bereits vollzogen und das Schneeweiß lautlos eingetreten. Nur der Schmerz meldet sich am Überrand. Auf dem Sand herrscht der Sandsturm, aber er bleibt, wie alles hier, unter Augenhöhe. Die ersten Körner künden von einer vergessenen Welt, der Wucht von spitzen Pfeilen an Waden, Knöcheln und Fersen. Aber die Stimmung festigt sich so schnell wie der Boden unter den Füßen. Die Kinder werden abgesetzt, der Wettlauf um Sandklaffmuscheln und Austernschalen beginnt. Im Badeanzug dem offenen Meer zu. Dem Rauschen der Süderaue entgegen und dem Fluch des Bernsteins.

Viola, die Schuttin klärt vogelkundlich Interessierte auf über Wattwürmer, Miesmuscheln, Pantoffelschnecken, über Aufschlickung, Kartierung und Zählung rastender, brütender, ziehender Vögel. Da es kaum Fressfeinde gibt, sind die Bruterfolge der Sandregenpfeifer und Pfuhlschnepfen in guten Jahren beachtlich. In schlechten Jahren gefährden hohe Wasserstände zur Brutzeit die Gelege. Ein Sportflugzeug brummt über uns hinweg. Paul verfolgt es mit dem Fernglas, notiert das Kennzeichen. Auch der Raum über unseren Köpfen ist geschützt. Wer zu tief fliegt, bekommt einen Verweis, im Wiederholungsfall eine Buße. Trotzdem landete hier an einem Sonntagnachmittag eine einmotorige Beechcraft Bonanza. Der Pilot hatte einen Notruf abgesetzt. Sinkender Öldruck und Rauch im Cockpit zwangen ihn, innerhalb von Sekunden einen Notlandeplatz zu finden.

Ich lege die Hand an die Stirn und suche die Sehnsucht ab. Hinter den Absperrungen liegt der Sand unberührt unter der Sonne. Die fluguntaugliche Maschine wurde nach zwei Tagen bei Hochwasser nach Föhr abgeborgen, die Insassen noch am Sonntag mit einem Marinehubschrauber nach Sylt gebracht, die tiefen Schneisen im Sand dem Wind überlassen. Seeschwalben und Silbermöwen zogen unverrichteter Dinge ab. Die Rettungsmannschaft war nicht zum Picknick gekommen.

Die Planken und Spanten eines Halbkraweels jedoch, die im letzten Eiswinter zwischen den Eisblöcken im Watt auftauchten, erzählt Viola, liegen immer noch unter unseren Füßen. Auch die, die im Mai im Sand zum Vorschein kamen. Mitarbeiter des archäologischen Landesamtes erfassten sie in Handskizzen mit Einzelmessungen und überlappenden Fotos im 360° Radius. Am Computer im Büro setzten sie die gefundenen Teile zu einem dreidimensionalen Modell zusammen. Abtransport, Konservierung und Lagerung der Originalbretter wären viel zu aufwändig gewesen. Das einzige, was sie mitnahmen, waren Dutzende durchnummerierte Holzproben. Die Motorsäge gehört zur Standardausrüstung der Archäologen. Die dendrochronologische Untersuchung ergab, dass der Halbkraweel untypischerweise ganz aus Eiche gebaut war. Die Bäume stammten aus einem norddeutschen oder südskandinavischen Forst und wurden in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts gefällt. Das Schiff havarierte entweder während der Eisflut von 1625, oder neun Jahre später in der Burchardiflut.

An dieser Stelle beginnt der Rückweg. Die Wasser läuft seit einer Stunde wieder auf. Unter meinen Fußsohlen wirken Kräfte fernab meiner kühnsten Träume. Die Knutts und Alpenstrandläufer werden sich zum Abendgebet versammeln, sobald wir aus ihrem Gesichtsfeld entschwunden sind.

Japsand: Hochsand, Vogelschutzgebiet in der Schutzzone 1 des Nationalparks Schleswig Holsteinisches Wattenmeer. Darf nur mit ortskundiger Führung zu Fuß von Hallig Hooge aus aufgesucht werden. Keine Chance für das Coronavirus.

© Judith Arlt 2020

Gedruckt in: SEHNSUCHTSORTE – Ein Buch über das Reisen in schwierigen Zeiten, herausgegeben von Andreas Salewski, geschrieben und bebildert von vielen Autorinnen und Autoren, erschienen im Achter Verlag, sorgfältig gestaltet, Hardcover, Fadenheftung, Lesebändchen, 236 Seiten, 200 Farbfotos, Preis 22,50 € ISBN 978-3-948028-091

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Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch