Der Karrieresprung

Caruso auf seinem Thron

Wie jedes große Tier habe ich eine Persönliche Assistentin. Sie hält mir den Rücken frei. Unter Euch Menschen gibt es Große Tiere, die führen diesen Titel völlig zu Unrecht. Denn es sind Krisenmanager, Chefdirigenten, Bergsteiger, Halsabschneider, Steingartenbesitzer uä. Ungeachtet des Auftretens auf zwei oder vier Beinen eint uns aber der freie Rücken! Bankdirektoren oder Kaufleute nannten ihre Persönliche Assistentin früher Fröilein oder Tippse, und verbannten sie ins Vorzimmer. Bittsteller, die nicht vorgelassen wurden, ga­ben dann die Schuld diesen Drachen. Meine Assistentin braucht kein Vorzimmer. Das rote Sofa ist mein Thron, und zum Diktat setzt sie sich neben mich. Ich teile alles mit ihr, das ganze Haus. Niemand beschimpft sie. Sie ist loyal, intelligent und multilingual. Sie kann nicht einfach blind mit allen zehn Fingern auf einer Tastatur herumhämmern, sondern muss humanverträglich formulieren.

Kürzlich also brachte sie ein Buch nach Hause, außer sich vor Freude! Sie ging auf die Knie, wie sich das gehört vor einem großen Tier, wedelte mit dem Ding vor meiner Nase und wiederholte etwa eintausend Mal: „Guck mal, guck mal … ein Geschenk! … “ Das Pa­pier roch unangenehm. Angewidert stieg ich durch die Klappe ins Freie. Als ich von mei­nem Spaziergang zurück kam, stand mein five-o-clock-snack nicht bereit! Sie hockte mit angezogenen Knien in der Sofaecke, die Nase tief im stinkenden Geschenk vergraben! Ich kenne das, wenn sie so ein Blätterzeug in die Hand nimmt, vergisst sie sämtliche Pflichten mir gegenüber. Es kommt vor, dass sie, ohne den Blick von der aufgeschlagenen Seite zu heben, mit dem Buch in der Hand die Treppe hochsteigt. Wie eine Schlafwandlerin! Um sie zur Räson zu bringen, springe ich sie dann von hinten an und Zack! Zwicke ihre Wade. Das bringt mir allerdings nie den erhofften Futternapf, nur ein heftiges Donnerwetter. Wenn ich die Zähne einsetze, wird sie fuchsteufelswild. Ich versuchte es also diesmal mit Sanftmut. Legte mich schnurrend neben sie. Nichts. Rieb meinen Kopf an ihren Zehen. Nichts. Rollte mich um ihre Füße. Nichts. Sprang auf die Rückenlehne und stolzierte um ihren Hinterkopf. Nichts! Stupste sie in den Nacken. Nichts! Nur ein unverständliches Ge­murmel. Ich drehte eine letzte Schmeichelrunde um ihren Hals. Nichts! Also haute ich rein! In die linke Schulter! Die ist selten genug in Reißnähe. Es war kein richtiger Biss, eher ein Kuss. Kein Tropfen Blut floss! Die Canini hatten ihre Haut durch den Pullover hindurch nicht einmal geritzt! Trotzdem heulte sie auf wie eine Sirene und jagte mich vom Thron, aus dem Zimmer, warf die Tür mit einem lauten Knall hinter mir zu! Danach blieb es stun­denlang still. Ich hockte im finsteren Flur. Alles Kratzen und Jammern half nichts. Sie ließ nicht locker. Halb verhungert schlich ich schließlich durch die Klappe und ging auf die Jagd.

Jene Nacht musste sie mit dem Buch auf dem roten Sofa zugebracht haben. Ihr Bett im Obergeschoss war am Morgen unberührt, als ich das Haus inspizierte. Es war schon heller Tag, als sie endlich aus der Tür trat, mir gedankenverloren über die Ohren strich und zum Telefon griff. Nach dem Frühstück bestellte sie mich zur Lagebesprechung auf den Thron ein. Ich war perplex! Normalerweise bestimme ich den Tagesablauf! Aber ich fügte mich und sie eröffnete mir, dass ich am Nachmittag einen Arzttermin habe. Sie mache sich Sor­gen um meine Gesundheit. Ich gähnte. Ich hatte eine aufreibende Nacht hinter mir und wollte schlafen. Sie faselte etwas von einem alter ego, meinem Namensvetter Errico, der viel zu früh, genau in meinem Alter gestorben sei! Ich könnte eine genetisch ungünstige Veranlagung geerbt haben. Lauter wirres Zeug. Wenn Menschen nachts nicht schlafen, verlieren sie am Tag den Verstand. Ich kenne diesen Kerl nicht. Er soll gesungen haben, dass einem Hören und Sehen verging. Sie griff nach dem Buch und las mir den Autopsie­bericht vor, lauter unverständliche Wörter. Subphrenischer Abszess. Abgekapseltes Em­pyem im linken Lungenflügel. Flüssigkeitserguss in die Pleura. Postoperative Komplikation nach abdominellem Eingriff. Ich bin kerngesund! Protestierte ich. Septische Peritonitis, fuhr sie fort. Fieber, Luftnot, gebrochenes Herz. Unter dem Vesuvio verschieden, mit dem Namen seiner Liebsten auf den Lippen: „Doro, Doro, Doro …“ Das reichte! Mit einem Satz verließ ich den Thron und verschwand durch die Klappe. Ich kenne einen verlassenen Strandkorb in der Nachbarschaft. Dort würde ich meinen verdienten Vormittagsschlaf fin­den.

Der Hunger trieb mich zur gewohnten Zeit nach Hause. Sie hatte nur auf mich gewartet und gab sofort das Futter her. Während ich es begeistert verschlang, verschloss sie hinter meinem Rücken die Klappe! Nach der siesta überlistete sie mich zudem mit einem Nach­tisch und sperrte mich in den Korb, den ich aus gutem Grunde fürchte. Sie schnallte uns, mich und den Korb, auf ihr Fahrrad und radelte trällernd durch die Feldmark nach Norden. Ein bisschen beschwichtigte mich ihre gute Laune. Aber in der Praxis fauchte ich alles an, was mir zu nahe kam. Es waren viele Handschuhe, viele Handtücher. Eine Nadel drang durch mein Fell in den Bauch. Es tat kurz weh, dann verlor ich das Bewusstsein.

Als ich aufwachte, lag ich auf meinem Thron. Die Assistentin saß neben mir. Ich war sehr hungrig, aber die Pfoten versagten mir den Dienst und das Zimmer drehte sich um mich. Die Assistentin lud mich ein, auf ihrem Schoss noch ein bisschen zu ruhen. Sie rührte sich nicht vom Fleck, bis ich die Augen wieder aufschlug und mich zu putzen anfing. Das gefiel ihr und sie lobte mich. Ich sei soo tapfer, sagte sie, sie sei sooooo stolz auf mich, ich sei sooooooo gesund! Von den vielen o’s wurde mir wieder schwindelig. Sie kraulte mich an meiner Lieblingsstelle unter dem Kinn und berichtete, dass ich ein Blutbild habe wie ein junger Hüpfer, ein gesundes Herz, gesunde Zähne, gesunde Augen, gesunde Ohren, ge­sunde Nieren, eine gesunde Leber, gesunde Milz, gesunde Verdauung … Ich streckte mich und sperrte das Maul weit auf. Sie sagte nichts Neues! … keine Läuse, keine Zecken, keine Milben, keine Würmer, keine Parasiten, keine … Todesmutig wagte ich den Sprung auf den Boden. Der blieb, wo er immer war, auch die Wände und Türen. Sie verstand und kre­denzte ein lukullisches Mahl. Wer so fressfreudig ist wie ich, kann nicht krank sein. Sie hätte sich die Kosten für das geriatrische Profil sparen können!

Etwas hat sich aber seither verändert. Die Narkose bugsierte mich womöglich ins nächste Leben. Ich besitze ja deren mehrere! Vielleicht schlüpfte ich tatsächlich in die Inkarnation jenes Maestros der Neapolitanità. Ich kann jetzt nämlich singen! Jedenfalls behauptet das meine Assistentin, und sie muss es ja hören. Sie reagiert nie mehr missmutig, wenn ich sie an die Fälligkeit von Rechnungen oder Futterrationen erinnere, sondern zeigt sich heiter gerührt, wenn ich `O Sole mio oder Vieni sul mar anstimme.

Zu gerne wüsste ich, wie vielen Immobilienhaien und Salonlöwen fleißige Bienchen in den Vorzimmern auf die Sprünge helfen. Aber ich kenne keine einzige Geschichte darüber. Vielleicht sind diese Großen Tiere einfach zu groß.

© Judith Arlt 2022

veröffentlicht in DLZ, Weihnachts- und Neujahrsglückwünsche 2022, 24.12.2022, S. 3

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch