Zweifel und Fröhlich

Wann immer das Wetter es erlaubt, sitzen Zweifel und Fröhlich auf der guss­eisernen Bank vor dem Haus und stricken. Herrenwesten, Fausthandschuhe, Strampelhöschen. Auf Bestellung. Zum Geburtstag. Zu Weihnachten. Aus Wollresten Tagesdecken oder Kissenbezüge. In allen Grautönen. Für die Schwiegertöchter.

Zweifel und Fröhlich sind verwitwete Zwillingsschwestern, seit dem Tod ihrer Ehemänner wohnen sie wieder unter einem Dach. Im Erdgeschoss verkaufen sie Wolle und Wäsche. Wie jedes andere Haus der Stadt steht auch ihr Haus im Schatten des Dreitausenders, der so heißt wie die Stadt. Für die Kartografen sind Stadt und Berg eins. Einen Landvermesser gibt es nicht mehr, seit der letzte seinen Dienst quittiert hat und weggezogen ist. „Die Stadt tritt nie aus dem Schatten des Berges“, lautet sein Vermächtnis. Es ist der letzte Eintrag im Archiv, fein gestochen in blauschwarzer Tinte.

Wenn das Wetter es nicht erlaubt, sitzen Zweifel und Fröhlich auf der Ofenbank im Laden und stricken. Kniestrümpfe, Damenwesten, Zipfelmützen. Wenn eine Kundin kommt, steht Zweifel, die Ältere auf. Setzt die Leiter an der richtigen Stelle an, steigt hoch, holt aus dem richtigen Fach die gewünschte Anzahl Knäuel, Blauband Special 50 oder 100 Gramm, lichtgrau, hellgrau oder stein­farben mit Beilaufgarn zur Verstärkung von Ferse und Spitze. Wieder unten hält sie keuchend inne, während Fröhlich, die um eine halbe Stunde Jüngere, rasselnd die Ladenkasse bedient, in den Korpusschubladen rumort, Banknoten und Häkelnadeln sucht, Hornknöpfe, Hebelköpfe, Hemdenknöpfe, und seufzend endlich das Wechselgeld herauszählt.

Zweifel und Fröhlich hatten zwei Mütter, eine erste und eine zweite. An die erste können sie sich nicht erinnern. Sie verblutete, nachdem sie die jüngere Schwester in die Welt gestoßen hatte. Niemand war darauf gefasst gewesen, zwei Neugeborene aus einem Bauch! Das ist lange her und stimmt immer noch. Zweifel und Fröhlich verlieren nie ein Wort darüber. Die zweite Mutter zog die Mädchen groß wie eine richtige Mutter. Zweifel und Fröhlich hätten nie etwas erfahren müssen von der ersten Mutter, hätte nicht der Vater sie an ihr Grab mitgenommen. Auch er lebt schon lange nicht mehr.

Zweifel und Fröhlich klagen, wenn überhaupt, nur über das Wetter. Jedes Wetter, sagen sie, mache ihnen zu schaffen. Bei Föhn plagen sie Kopfschmerzen. Bei Bise Gelenkschmerzen. Bei Schnee Kreuzschmerzen. Bei Regen Atemnot und Ohrensausen. Bei Hitze Schwindel. Bei Gewitter Erinnerungslücken. Bei leichter Bewölkung Achselschweiß. Am Nachmittag Magenbrennen. Am Vormittag Langezeit. Am Anfang des Monats, über die Kassenbücher gebeugt, Sehstörungen, Zahlenreihen und Additionsfehler. Direktes Sonnenlicht meiden sie aus Rücksicht auf die Ware, mit der sie handeln. Zu Fuß gehen sie am Freitag zur Beichte und am Sonntag zum Hochamt. Ins Grüne kommen sie höchstens am Ostermontag, wenn der Laden geschlossen ist und das Auto mit dem fremden Kennzeichen vor dem Haus hält.

Daraus steigt eines Tages das neue Kind und bringt Unruhe. Seit es lesen kann, wird es in regelmäßigen Abständen an die frische Luft geschickt. Wie ein Postpaket. Mehrmals täglich für eine knappe Viertelstunde auf den Schulhof in der Fraumatt. An Sonntagnachmittagen in den Galmswald. In den Sommerferien vier Wochen in die Höhe. Und im Winter, wenn die Narren im Unterland unterwegs sind, auf die Skier in eine vor Schreck starre Landschaft. Obwohl das neue Kind schon schreiben kann, bleibt ihm das Unterwegs noch verborgen. Es sieht das Hier und das Dort. Dazwischen schläft es auf dem Rücksitz ein. Einmal hört es zum ersten Mal das Rauschen einer viel befahrenen Straße. Und dann, an einem milden Abend, sitzt es zum ersten Mal auf der Bank vor dem Haus unter dem Dreitausender zwischen Zweifel und Fröhlich.

Es hatte zuerst der Älteren, dann der Jüngeren die Hand gereicht. Die Berührungen schafften Klarheit. Die Hand des neuen Kindes war warm und klein, die Hände der Zwillingsschwestern kalt wie nie benutzte Porzellanteller. Das Kind sagte: „Grüßgott!“ Und betrachtete die Schieferplatten unter seinen Füßen. Derweil stahl sich das Motorengeräusch aus seinem Rücken. Wie das letzte Licht aus dem Tal. Das neue Kind drehte sich um, aber zu spät. Der Asphalt glänzte wie nach Regen.

Einmal schläft es zum ersten Mal im Innern des Hauses unter dem Dreitausender. Danach werden auch die kalten Nächte zur Gewohnheit. Ein doppeltes „Bhüetigott!“ begleitet es durch die Klappe in der Stubendecke nach oben. Das Haus besitzt eine Königin und viele Kammern wie ein Bienenstock. Manche sind miteinander verbunden, andere nicht. Das Treppenhaus führt sein eigenes Dasein vom Keller bis unter das Dach. Vorbei an den Zimmern der ersten Etage und der zweiten Etage, vorbei an den beiden Zwischenetagen, vorbei an den Zimmern der Zimmerherren, vorbei an der Waschküche, am Abtritt und der Kochküche. Das Kind benützt nie das Treppenhaus. Unter seinem Bett befindet sich ein Nachttopf mit Deckel. Die Zimmerherren bekommt es nie zu Gesicht. Die Klappe lässt sich von unten und von oben öffnen oder schließen. Oben ist es finster. Unten sitzt der Fernsehapparat im Wandschrank. Die gestärkten Laken fallen über das neue Kind wie der eiskalte Jetzbachfall.

Tagsüber wissen Zweifel und Fröhlich wenig anzufangen mit der Unruhe, die mit dem Kind ins Haus gekommen ist. Ihre Erinnerung hat vieles in die Ferne gerückt. Kartoffelschälen, Suppenknochen oder Butterzüpfe sind Fremdwörter geworden. Am Abend sitzen sie zu dritt auf der Polsterbank im Zimmer über dem Laden und unter den Schlafstuben. Sie starren in den offenen Schrank und verfolgen die Bilder, die er ausspuckt. „Einer wird gewinnen“ oder „Was bin ich“. Wenn das Kind Hunger hat, reißt Zweifel Aromaschutzhüllen auf. Im Halbdunkel greifen drei Hände in die Verpackung. Niemand spricht mit vollem Mund.

Die Schwestern legen die Rundstricknadeln den ganzen Tag nicht aus der Hand. Kordelzöpfe können nach links oder nach rechts verkreuzt oder abwechselnd einmal so und einmal anders herum gearbeitet werden. Trotzdem hören sie nicht auf zu chiflen. Nehmen, wenn das Gestrick elastisch werden soll, kleinere Nadeln für das Bündchen mit den Minizöpfchen. Und sticheln weiter. Wenn sie das neue Kind rufen müssen, geraten sie sich in die Haare. Die eine wirft der anderen vor, sie würde es zum Weib machen. Und die andere wirft der einen vor, sie würde es zum Cheib machen. Sie wissen nicht, welches Geschlecht es hat und auf die Idee, nachzuschauen, kommen sie nicht. Deshalb gibt ein Wort das andere. Das Kind rührt sich nicht. Über seinem Kopf wüten Rechthabereien und Aufbegehrlichkeiten. Bis Zweifel und Fröhlich eines Morgens beschließen, dem neuen Kind den richtigen Anschlag beizubringen. Die Regeln des Nadelspiels. Ihr Zanken bekommt neue Nahrung. Soll es zuerst Runden stricken lernen oder Reihen? Soll es mit einfachem oder doppeltem Faden anschlagen, mit einer oder zwei Nadeln, fest oder locker? Die erste Masche von außen nach innen oder von innen nach außen aufnehmen? Über dem Daumen oder über dem Zeigefinger, der rechten oder linken Hand? Kreuzanschlag, Knötchenkante oder gerade Kante, Rückreihe oder Hinreihe … Das Kind rutscht von der Bank.

Auf den Dreitausender hoch kommt es nie. Es befühlt schmiedeeiserne Gitterstäbe. Die Häuser an der Straße stehen geschlossen Seite an Seite. In Bereitschaft wie eine kleine Armee. Ohne einen Spalt, einen Baum oder eine Rose. In den Vorgärten liegt geharkter Kies. Ohne Grün. Ohne Gott. Es kann den Granit nicht einmal sehen. Es kommt nicht über die nächste Straßenkreuzung, nicht über den Spielhof hinaus. Fröhlich ist ihm nachgesprungen und zeigt ihm den Weg in die Apotheke. So ist kein Schritt umsonst gewesen. Zurück auf der Bank fädelt es den anthrazitgrauen Faden, reine Schurwolle Sedrun, verstärkt mit einem geringen Anteil Grilon, in die Finger der einen Hand, schlägt so viele Maschen mit der anderen Hand an, wie sich gleichmäßig auf die vier Metallnadeln verteilen lassen. Und erklimmt Wendeltreppe um Wendeltreppe. Waffelmuster um Waffelmuster. Lernt lismen. Pfauenmuster, Rollrand, fließende Würgefeigenmuster. Abgerundete oder vierteilige Käppchen, Ristabnehmen, holländische Ferse. Schleudersternspitzen ohne jede Unregelmäßigkeit beenden den Freigang in der Höhe. Der Fahrer hat ungewöhnlich lange Zehen. Dies weiß das Kind, denn es hat nachgeschaut. Es schließt die eine Socke mit einer rechten Spitze ab, die andere mit einer linken. Dann kommt Benzingestank auf und entschwindet mit dem neuen Kind auf dem Rücksitz. Es schläft sofort ein und Ruhe kehrt ein. In der Stadt im Schatten des Dreitausenders sitzen Zweifel und Fröhlich auf der Bank vor dem Haus und stricken. Wann immer das Wetter es erlaubt.

© Judith Arlt 2011

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch