Barteks Auftrag

Das iPhone weckt mich. Es hat den Stundenzettel empfangen und sendet das Startsignal für den neuen Tag. 7:30 Uhr fünfundzwanzig Quadratmeter Birkenstraße vier, Querhaus, dritter Stock, Zugang von der Zollstraße. 11 Uhr Dreiundvierzig Quadratmeter Wilsonplatz, Ecke Mickiewiczstraße, Zolibórz. Nach der Mittagspause Morgan Sechsundneunzig, die ganze Dachetage. Anschließend Updike Neun, Siebzig Quadratmeter. Zwei Träger sind mir zugeteilt, einer mit Führerschein Klasse C für das Fahrzeug, dessen Ladefläche das Mobiliar eines zwei-Mann-Arbeitstages fasst.

Ich bin Wohnungsräumer in leitender Stellung. Ich muss kein Möbelstück mehr selber anheben. Ich überwache den Abtransport und bestätige den Leerstand. Der Stundenzettel optimiert Zeit und Raum. Meine einzige Aufgabe besteht darin, den Trägern kein Abweichen von den Vorgaben zu erlauben. Die Immobilienpreise liegen im Keller. Der Wohnungsmarkt gleicht einem weiten Feld. Mit Wildwuchsbeständen, Streuobstwiesen und bunten Vögeln. Die massiven Schrankwände stehen immer an den falschen Stellen. Meine Untergebenen entrümpeln bei Bedarf rund um die Uhr und bringen die brennbaren Hinterlassenschaften uns unbekannter Menschen an die Stadtgrenze. Nicht brennbare Gegenstände unterliegen der Meldepflicht. Bezahlt werde ich nach der Größe der leer gewordenen Wohnfläche. Mein iPhone rechnet jeden Abend den Tagessatz aus und schreibt den Betrag meinem Gehaltskonto gut. Meinen Auftraggeber bekomme ich nie zu Gesicht. Er hat in den nördlichen Neubaugebieten zu tun. Ich bin ein moderner Taglöhner, Mitte Vierzig, ungebunden und unauffällig. Das System kann jederzeit aufhören, mit mir zu kommunizieren.

Heute schickt es mich zuerst in die Altstadt. Möbeltransporte sind dort nur von Sonnenaufgang bis zehn Uhr möglich. Danach gilt ein striktes Fahrverbot. Für Handwerker, Lieferanten oder Ordnungshüter. Für Anwohner, Christen oder Schaulustige. Das iPhone kennt die Gesetze. Der Postbote kommt zu Fuß, die Sargtischler, die Feuerwehrleute, die Ordensbrüder, die Heiratswilligen, die Fotografen, Trauzeugen, Museumsbesucher, Hungrigen und Durstigen. Das GPS weist mit weiblicher Stimme den Weg und empfiehlt warmes Schuhwerk sowie eine Kopfbedeckung. Heute ist Samstag, der vierzehnte Januar. Leichter Schneefall. Steifer Wind.

Die fünfundzwanzig Quadratmeter sind übersichtlich. Ich bin immer als erster vor Ort. Ein einziges Zimmer. Im Bad wurden die sanitären Anlagen bereits abgebaut und die Abflussrohre oberflächlich verschlossen. Nicht geruchbindend! Die Wohnung ist überheizt. Seit fünf Jahren unbewohnt, versichert mir Pani Barbara vom vierten Stock. Sie ist die Älteste im Haus und verwahrt die Schlüssel. Das Wasser ist abgestellt, der Strom fließt, wenn die Sicherung eingedreht wird. Es findet ein zwischenmenschlicher Kontakt statt, der länger als 15 Sekunden dauert, warnt das iPhone, und registriert den Wortwechsel. Ich sperre das Fenster auf.

Die Häuserzeile an der Birkenstraße gehört zur alten Stadtmauer und wird zentral geheizt. Eine individuelle Regulierung der Innentemperatur ist nur durch Öffnen der ehemaligen Schießscharten möglich. Pani Barbara erzählt, die Erbin habe Cecylias persönliche Sachen abgeholt, verschenkt oder verbrannt. Nur auf die Korrespondenz legte sie Wert und übergab sie dem Literaturmuseum. „Pani Barbaro! …“. Sie lässt mich nicht ausreden. Auch den Totenschein, fährt sie fort, des im Krieg gefallenen Ehemannes. Sowie die englischen Übersiedlungspapiere. Und das Testament, natürlich. Nein, verwandt sei die Erbin nicht mit Cecylia. „Pani Barbaro! Prosze …“. Sie lässt sich nichts anmerken. Die Erbin lebe in Paris und trage auch im Winter goldene Pumps. Stellen Sie sich vor! Der Käufer, sie rasselt genüsslich mit dem Schlüsseln, sei ein junger Geschäftsmann. Gerade im Urlaub auf Krabi. „Pani Barbaro! …“ Das iPhone meldet die Ankunft der Träger. Sie manövrieren den Laster in die Toreinfahrt und stellen die Warnschilder auf. Ich lehne mich aus dem Fenster. Draußen ist Welt größer als drinnen.

Die sperrigen Teile verlassen die Wohnung zuerst. Die Bettstatt. Das Bücherregal. Der Kleiderschrank. Ich muss ihn öffnen. Ich muss jedes abschließbare Möbelstück vor dem Abtransport öffnen. Im Schrank ist es noch heißer als im Zimmer. Die Kleiderbügel sind leer, ich lasse sie hängen. Das Treppenhaus ist hohl wie ein Hungerturm. Die Träger tragen, ich gebe Anweisungen. Wir bewegen uns zu dritt in harmonischen Ovalen abwärts. Anheben. Nach links. Achtung. Kippen. Hochkant. Schulter. Wand. Noch zwei Stufen. Oh! Kurcze blade! Unsere Stimmen überschlagen sich. Unsere Sprachen überschlagen sich. Unsere Schritte überschlagen sich. Eine Tür geht vorwurfsvoll auf. Ich entschuldige mich für das Gepolter am frühen Morgen.

Pani Barbara steht in der lachsfarbenen Strickjacke oben im Durchzug. Ich schiebe sie beiseite: „Sie holen sich hier den Tod!“ Der eine Träger nimmt den Tisch, der andere den Stuhl. Für das Kleinzeug brauchen sie meine Hilfe nicht. Pani Barbara lacht. Sie sei verantwortlich für die Erinnerung. „Wir haben keine Zeit für Erinnerungen“, sage ich und öffne den Hängeschrank über dem Wasserhahn in der Kochnische. Sie habe alle in diesem Haus überlebt. Im Sommer fahre sie auf die Krim. Und Cecylia …

Ich lehne mich wieder aus dem Fenster. Das iPhone gibt einen weiteren Warnton ab. Diese Bewegung hat nichts mit meinem Auftrag zu tun. Ich kann die Träger in der Toreinfahrt vom Fenster im dritten Stock nicht sehen. Ich blicke auf den Fluss, in den lautlos Schnee fällt. Die Birkenstraße führt über den alten Misthügel. Hier luden im Mittelalter die Stadtbewohner ihre Fäkalien ab. Bis der Berg zu hoch wurde, der Gestank unerträglich und die Ratten herrisch. Der König befahl, den Dreck in den Fluss zu schaufeln. Und am Ufer Kornspeicher zu errichten. Damals lag die Weichsel noch in ihrem ursprünglichen Bett. Von Süden wurde Getreide angeliefert. Heute ist der Fluss reguliert, nach Osten verschoben und die Straße der Birken so kurz, dass ihr zu Füßen eine Aussichtsplattform Platz hat.

… und Cecylia besaß nichts Überflüssiges. Pani Barbara ist nicht zu stoppen. Sogar das Augenlicht habe Cecylia bereits zu Lebzeiten abgegeben. Die beiden Träger stehen unter der Tür, die letzten Holzteile, Bilderrahmen, Tassenhalter, Kleiderhaken unter den Arm geklemmt. Sie halten mir ihr Display entgegen. Ich zeichne zweimal einen Stundenzettel ab. Hier ist ihre Arbeit getan. Federnd springen sie die Treppen hinunter. Unten binden sie die Ladung mit Ratschen-Zurrgurten fest, schalten die blinkenden Warnlampen aus und steuern die Uferschnellstraße an.

Es ist noch nicht zehn Uhr. Ich drehe mich um. Meine Arbeit ist noch nicht getan. Ich muss die Leere der Wohnung ins System einspeisen. Pani Barbara steht wie ein Denkmal mitten im Zimmer. Neben ihr ein Koffer. Ein mächtiger Überseekoffer mit Tragegriffen zu beiden Seiten. „Wo kommt der her?“ Sie rührt sich nicht. Das dunkelblaue Leder ist abgeschabt. Die Metallbeschläge glänzen wie neu. Gutes Material, denke ich und verfluche sofort diesen Anflug von Mitgefühl. Das iPhone tobt. Es braucht die Bestätigung im Feld „leer“. Der Laster fährt bereits durch den Lindenwald. Pani Barbara reicht mir einen kleinen Schlüssel und fragt: „Wie war Ihr Name?“ „Bartek“, antworte ich wider besseres Wissen und versenke das iPhone in der Hosentasche. Ich brauche nun beide Hände. In ihr Gesicht ist die Farbe zurückgekehrt. „Panie Bartku, der Koffer kam 1948 über den Kanal.“ Das Schloss klemmt. Ich schwitze. So viel Anstrengung bin ich nicht mehr gewohnt. Früher arbeitete ich als Beutner. Endlich springt die Klappe auf.

Im Koffer liegt Cecylias letzter Wille. Ein einziger handschriftlicher Satz. „Ich, Cecylia Srogowicz, geboren am zweiundzwanzigsten April Neunzehnhundertzehn in Widze (Litauen / Sowjetunion / Weißrussland), bitte darum, dass meine Asche der Ostsee übergeben wird.“ Für die Ostsee bin ich nicht zuständig. Cecylias Leben fand ohne mich statt. Ich muss die Wohnung, in der sie lebte, leer zurücklassen. „Pani Barbaro, wo ist die Asche?“ Die alte Frau tritt einen Schritt zur Seite. Die Urne steht auf der Fensterbank. Ich stelle sie in den Koffer. Lasse das Klappschloss zuschnappen. Schiebe das Reisegepäck über die Türschwelle ins finstere Treppenhaus hinaus. Hole das iPhone aus der Tasche. Tippe die erforderlichen Angaben ein. Es erfolgt kein Quittierton.

Dann mache ich mich auf den Weg. Direkt hinunter an die Weichsel, über den Misthügel. Die Treppenstufen leisten am meisten Widerstand, der Koffer poltert noch einmal, wie früher die Stimme der Erblindeten, durchs Haus. Dann über den Fluss. Das rechte Ufer ist sicherer für Fußgänger. In der Mitte der Brücke bleibe ich kurz stehen und lasse das iPhone über das Geländer in die Tiefe fallen. Am Vilniusbahnhof kaufe ich einem Dienstmann den Gepäckwagen ab und lege Cecylias Koffer darauf. So komme ich besser vorwärts.

© Judith Arlt 2012

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch