Achtung! Rutschgefahr

I

Eman Rühl hat die Kehrtwende hinter sich und jagt in großen Sprüngen über den trockenen Meeresboden. Auf den Deich zu. Die Gezeit hat die Kehrtwende auch hinter sich und schickt die Flut vor. Zurück in die Bucht. Auch auf den Deich zu. Wohin sonst? Dem Festland entgegen. Eman Rühl muss ihr zuvorkommen. Um alles in der Welt. Und darüber hinaus. Das lange silberne Haar folgt dem Haupt wie der Schweif dem Kometen. Wenn aber unerwartet eine Böe von West auffrischt, umhüllt es die ganze Gestalt wie ein Gewand, so lang und dicht ist es, und zerrt sie vorwärts. Ungestüm wie ein Hund an der Leine. Ein schillerndes Staubgemisch, oder ein verschnürtes Paket am Horizont, das ich, ich allein zu dieser Stunde von der Deichkrone aus beobachte. Neben mir rupfen ungeschorene Schafe Gras und schnauben zufrieden. Ihre Köpfe sind gesenkt und die Sinne konzentriert auf das Naheliegende. Was um sie herum geschieht, kümmert sie nicht. Dort draußen trudelt etwas nicht bodennah und richtet sich immer höher auf, nimmt in der Taille zu wie der Faden auf der Spule. Oder eine Spindel. Wirbelnd auf Zehenspitzen. Mit erhobenen Armen, ausgestreckten Händen, zierlich schlanken Fingern – eine Ballerina von bemerkenswerter Statur! Aber vielleicht scheint es mir nur so. Vielleicht nur mir. Vielleicht ist die Luftunruhe meine Einbildung. Ich warte auf das Wasser und habe, wie alle hier am Wattenmeer, unendlich viel Geduld und unendlich viel Fantasie. In Ermangelung von Gedrucktem lesen wir im Zenit oder im Hitzeflimmern der Kimm, deuten Vibrationen von Dampf und Glut nehmen das Funkeln der Sterne für bare Münze.

Die Nacht verbrachte ich liegend im Gras, auf der flach auslaufenden Böschung, der See zugewandt, und starrte in den Himmel. Ich hörte unter mir das Wasser gehen und sah über mir die Meteoriten kommen. Es wurden immer mehr. Sie bildeten Schwärme und fielen in Schauern nieder, ohne mich zu treffen. Sie befeuerten sich gegenseitig, schossen schräg hinab, die meisten von oben rechts nach links unten, von Nord nach Süd also, sagte mein hellwacher Geist und überprüfte die Koordinaten. 54.089805 Breite, 8.951486 Länge. Vereinzelte Boliden störten die Ordnung und zielten in die andere Richtung. Legten die Lunte von oben links nach unten rechts. Das Flackern im Kreuzstich war so aufregend, dass ich kein Auge schließen konnte. Der Bann ließ erst nach, als die graue Stunde anbrach und alle Irrlichter wie auf Knopfdruck erloschen. Es wurde dunkel und still! Ich erhob mich taumelnd. Von allen guten Geistern verlassen wollte ich sofort ins Wasser, mich abkühlen, die starren Glieder lockern, schwimmen! Möglichst weit hinaus. Aber die Bucht war leer, das Watt trocken. Noch niemand wach. Oder alle Schnatternden viel zu weit draußen. Die Watvögel, die am Spülsaum leben und mit der Flut, auch sie, an Land kommen. Es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Also erklomm ich den Deich und setzte mich zu den Schafen.

Die Nacht ist zu schnell vergangen, denke ich, so ganz ohne Schlaf. Und vielleicht ist das, was ich jetzt in der Ferne sehe, der Preis dafür. Eine optische Täuschung. Tautropfen oder Nachbeben. Ein Echo des Blitzgewitters oder das wahre Bild der Ewigkeit. Eine Illusion, die mein überreiztes Hirn aus dem Innersten hervorkehrt, um Ruhe zu geben. Eman Rühl hat die Kehrtwende hinter sich und jagt geradewegs auf mich zu.

* * * * *

Wie der Name vermuten lässt, stammt Eman Rühl aus Witten. Von den Vorfahren sind diverse Rudolfe bekannt, Riedel, Rexe, Rullmänner. Wehrhafte Kerle, stark wie Wölfe, strahlend wie Götter, mit Blut an den Händen wie alle Sieger. Rule Scharflippe, Rüdiger Eselsmaul und wie sie alle hießen. Aber keine einzige Frau! Bis auf Mutter Rühl, die sich Rühl, dem Vater widersetzte und ihrem Kind den Namen Emanu-Eli gab. Dieser Akt bewahrte sie, sie allein unter all den Müttern, Großmüttern, Töchtern, Schwestern, Geliebten und erbrechtlich Getrauten, vor dem Vergessen. Vor dem Vergessen in der Familie, vor dem Vergessen im Dorf, in der Stadt, im ganzen Kreis. Kein Kind hat je so einen Namen getragen, kein Beamter musste je so einen Namen niederschreiben und in die Akten aufnehmen. Ein Doppelname? Geschlechtsneutral? Mit Bindestrich und Binnenmajuskel? End-i? Ein Kosename? Buchstabenungetüm? Jenseits von Tradition und Moral?! Nein! Protestierte der greise Schreiber und Mutter Rühl schrie das halbe Wittener Hohe Haus zusammen. Der Bürgermeister erschien unter der Tür, gefolgt von seiner erschrockenen Sekretärin, was denn dieser Lärm zu bedeuten habe. Vater Rühl war auf Arbeit unter Tage und das Kind lag schlafend im Arm der Mutter. Einzig zufrieden mitten in dem furchtbaren Aufruhr. Nicht mit Bindestrich! Wiederholte der Schreiber und schüttelte seinen kahlen Kopf. Mutter Rühl ballte die Faust. Nicht mit groß E und klein i. So etwas sei ihm in seinem ganzen Berufsleben nicht untergekommen. Das Amt war hilflos, auch der herbei beorderte Landjäger konnte nichts ausrichten. Rühl, die Mutter stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Hier würde sie stehen und warten, bis ihr Kind registriert sei. Sie verstummte und wiegte das Neugeborene. Schließlich gab der Bürgermeister dem Schreiber ein Zeichen und der zog Tinte in seine Feder. Mit sicherer Hand folgte er dem Diktat. Emanu-Eli, Abkömmling der Dietlinde, geborene Dürmüller und des Othmar Rühl.

* * * * *

Das Meer ist noch nicht da, weder spiegelglatt, sanft und einladend noch aufgebracht, wild und schäumend. Niemand kann sich in dieser Stille das Ohrenbetäubende vorstellen, das den Sturm ausmacht. Auch ich nicht. Niemand wittert in der Weite einer leeren Bucht die Zerstörungswut überhaushoher Wellen. Das Wasser schwillt bereits an, ich weiß es, stetig und unaufhaltsam. Ich sehe es nicht, aber die Erfahrung sitzt in der Seele und korrigiert meine Sichtweise. Die Katastrophe ist nicht mehr zu verhindern, auch wenn noch nichts sie ankündigt. Nicht das leiseste Grollen in der Luft. Kein Trappeln am Himmel, kein fliegender Bote. Keine kochende Erde. Die Flut folgt festen Regeln und füllt zuerst die tiefliegenden Rinnen. Ihr Takt ist vorgegeben und sie hat nichts zu befürchten. Mein Hoffen ist folgenlos. Eman Rühl jedoch muss alles befürchten und kann verlieren, wovon ich nicht die leiseste Ahnung habe. Was ich sehe, oder zu sehen meine, überfordert meinen Verstand. Eman Rühl muss schneller sein. Schneller als die Nacht, schneller als das Wasser, schneller als das Licht. Schneller als das Auflaufen, schneller als das Auflauern, schneller als das Aufhellen. Schneller als mein Denken, schneller als mein Staunen, schneller als mein Entsetzen. Eman Rühl muss vor der Flut ankommen. So einfach ist es und doch kaum zu fassen.

Beide, die Flut und Eman Rühl, bewegen sich zu dieser Stunde in der selben Richtung. Das kommt selten vor, so gut wie nie. Brav hintereinander her, scheinbar ohne böse Absicht. Eman Rühl hat einen winzigen Vorsprung und darf ihn nicht verspielen, keinen Millimeter, keine Sekunde. Das Verb trügt, es ist kein Spiel. Kein Tanz. Kein Sonntagsspaziergang. Kein Wettrennen, keine Treibjagd, kein Volksfest. Die Ehrentribüne wird nur für das Foto in der Werbung aufgebaut. Hier führen die Stufen hinab. Vom Deich über die Steine ins Watt. Oder ins Meer, in die weite See. Diese Stufen sind zementiert für alle Zeiten. Und für die Zuschauer, die an diesem Morgen noch schlafen. Zeugen sind nicht erschienen, auch keine Linienrichter. Die Lebensretter haben ihre Fahne noch nicht gehisst, also sind auch sie nicht auf ihrem Posten. Zu dieser Stunde! Sie brauchen Wasser für ihren Einsatz, mindestens hüfthoch, vorher ertrinkt keiner. Die Strandkörbe stehen in Reih und Glied auf dem Grasdeich. Mit dem Rücken zur Bucht. Die Bucht ist leer, der Strand ist leer, die Körbe sind leer. An der Westküste geht die Sonne über dem Festland auf. Die Marschmusik sitzt noch im Koffer und trommelt probeweise gegen den Deckel. Sponsoren springen auf und ab. Die Preise purzeln, oder werden nicht ausgelobt. Weder ein erster noch ein zweiter, dritter, vierter … noch der letzte, den Kleinsten zum Trost. Nichts ist überliefert und alles reiner Zufall. Auch meine Anwesenheit. Es ist kein Spiel. Sondern bitterer Ernst. Stolpern verboten!

Würden sie im Gleichschritt kommen, die Gezeit und die Gestalt, in meinem Angesicht, und würden sie im Gleichschritt wieder gehen, könnten sie zweimal täglich, jahraus jahrein in der Bucht ihren Wattlauf austragen. Regelmäßig und unauffällig, wie alles, was Routine geworden von niemandem mehr zur Kenntnis genommen wird. Die Wattenmeertide tritt an gegen die Wattenmeerfigur. Ein unschuldiges Spektakel wie das der Mädchen am Sonntag auf der Wippe, die selbstvergessen singen im Auf und Ab und Hin und Her, mit flatternden Röckchen, weißen Söckchen, bunten Schleifchen, blonden Zöpfchen … Aber die Gezeit und die Gestalt kommen nicht im Gleichschritt! Sie bewegen sich nicht synchron und sind nicht ebenbürtig. Im Gegenteil! Die Gestalt fürchtet die Gezeit, statt sich mit ihr zu verbünden. Und die Gezeit, einzig eitel, verachtet jede Gestalt, die sich ihr in den Weg stellt. Jeden Gegenstand, jeden Rettungsring, jeden Schwimmflügel, jeden Fischerkahn, jedes Ausflugsboot. Uninteressiert allem Artfremden gegenüber. Nur im Märchen siegt das Glück. Am Wattenmeer herrschen weder gute noch böse Kräfte, nur natürliche. Fliehkraft und Zentralkraft heben sich hier nicht auf. Weder befinden wir uns im Stillstand noch in der Stringenz. Die Gezeit kennt nur Ebbe und Flut, das einsilbige Hin und Her, das geregelte Auf und Ab. Eman Rühl aber beschreibt eine ganz andere geometrische Figur und braucht für einen Umlauf unvorstellbar viel mehr Zeit, unvorstellbar viel mehr Kraft, unvorstellbar viel mehr Raum. So nah wie heut kommen sich die beiden in meinem Leben nie wieder. Auch davon habe ich keine Ahnung.

Unten am Deich liegen Steine, schwere Basaltblöcke. Die Deicharbeiter setzen sie nach jedem Sturm wieder akkurat kantig gegen- und übereinander. Sie machen das von Hand, denn anders geht es nicht, und nennen ihr Werk zärtlich Igel. Um diesen Steinigel kümmern sie sich fürsorglicher als um ihre Kinder. Er stabilisiert den Deichfuß und sichert das Hinterland auf der ganzen Länge der Küstenlinie. Stachelig und unnahbar. Kein Fuß überschreitet ihn. Nur an den wenigen, offiziell ausgewiesenen Badestellen ist sein Rücken gebrochen. Unterbrochen. Dort sind ein paar Blöcke wieder herausgehauen und stattdessen Stufen aus Zement hineingegossen, so breit, dass zwei Menschen aneinander vorbeikommen, ohne sich berühren zu müssen. Wer im Watt wandern oder im Meer schwimmen will, geht diese Stufen hinunter. Wer genug davon hat, steigt die Stufen wieder hoch und fährt nach Hause. Oder legt sich auf den Deich an die pralle Sonne.

Bei Ebbe liegt der Wattboden frei, ist aber nicht gleichmäßig trittfest. Es ist kein Waldboden, obwohl auch das Watt weich wie Moos sein kann. Es ist keine blühende Almwiese, obwohl auch hier zuweilen Algen blühen. Trockener Schlick wechselt mit nassem Schlick. Schlicklöcher sind hinterlistig und öffnen sich ohne Vorwarnung. Die Priele wandern im Winter und stauchen den Wattsockel. Strömungsrippel und Windrippel zeichnen ästhetische Muster, sind aber durchsetzt von messerscharfen Scherben, zerbrochenen Muschelschalen. Bei Flut füllen die Fluten die Bucht und überfallen den halben Igel, je nach Sonnen- und Mondstand ersäufen sie ihn ganz. Mit mörderischer Lust! Zu Beginn der Badesaison schrauben die Hüter des Gesetzes Handläufe an, einen zur Linken der Treppe für die Linkshänder und einen zur Rechten für die Rechtshänder, sowie oben auf Augenhöhe zwei Warntafeln. Eine gelbe und eine rote. Der Sommer hat schon begonnen. Eman Rühl ist noch weit draußen und kann kaum erkennen, wovor die Dreiecke warnen. Ich weiß es auswendig. Sie richten sich an die Badegäste, die vom Festland anreisen. Ob die lesen können und der Landessprache mächtig sind, wird nicht überprüft. Sie bezahlen für das Parken, nicht für das Vergnügen, klettern in Badelatschen aus den Kombis und schleppen bauchige Badetaschen über den Deich. Am grünen Strand werden sie über alle Gefahren aufgeklärt und tragen fortan die Verantwortung für ihr Tun selbst. Eman Rühl aber kommt von der Seeseite und läuft gerade das totale Risiko. Das Risiko, hinterrücks von der Flut überrollt und das Risiko, von der aufgehenden Sonne geblendet zu werden. Im schlimmsten Fall geschieht das eine und das andere gleichzeitig. Eine unglückliche Verkettung widriger Umstände. Eman Rühl bewegt sich von einer Kehrtwende zur nächsten.

II

Der Schlick ist unruhig. Er wabert und glänzt. Knistert. Algen und Krebse haben die Nacht durchgearbeitet. Stolz im Akkord fertigen sie ihre Auslegeware! Sie folgen immer der Ebbe und fangen sofort an zu weben, kaum weicht das Wasser vom Deichfuß. Ungeachtet der Tageszeit befestigen sie ihr glitschiges Werk am ersten Basaltklotz des Igels. Damit es nicht verrutscht und keine Stolperfalten wirft. Wo der Steinigel unterbrochen ist, kleben sie die Fransen an die unterste Stufe der Zementtreppe. Dann rollen sie ihren stets frisch geknüpften bunt gemusterten Teppich aus. Zentimeter um Zentimeter im Gleichschritt mit der Gezeit, mit der Wasserlinie, die jetzt ohne jede Angriffslust auf dem Rückzug ist. Bis weit in die Bucht hinaus legen sie ihre Matte. Auf der ganzen Breite und in der ganzen Länge. Soweit das Auge reicht. Soweit die Ebbe flieht. Wenn die Gäste vom Festland eintreffen und die Kinder übermütig ins Watt stürmen, haben die Kieselalgen bereits ganze Arbeit geleistet. Das laute Geschrei aus schlickverschmierten Gesichtern verhallt folgenlos. Die Algen beschäftigen Hundertschaften von unsichtbaren Helfern und Helfershelfern. Heerscharen von Schleimproduzenten und Schadstoffbindern, Sulfatreduzierern, Schwefelabbauern. Putzkolonnen! Ein- oder Wenigzeller. Krebse. Würmer. Bakterien. Rädertierchen, Kiefermündchen, Fadenwürmer, Ruderfußkrebse, Purpurbakterien, Strudelwürmer, Wimpertierchen, Muschelkrebse, Pfeilwürmer, Schlickkrebse, Cyanobakterien. Auch das Kollektiv dieser Winzlinge ist abhängig von der Gezeit und kann sein Werk nur fortsetzen, solange das Wasser fort ist. Wenn Kinder über den roten Teppich tollen, auf ihm herum stampfen und an Fäden zupfen, wird jede Schwachstelle umgehend ausgebessert, jeder Riss zugenäht, jedes Loch gestopft. Dazu stehen unzählige Soforthelfer mit Nadeln und Garn bereit. Wenn aber die Flut kommt und ihre Wassermassen rücksichtslos über die Werktätigen und ihr Wunderwerk schleudert, ist Pause angesagt. Einkehr! Um die ertrinkenden Kinder müssen sich dann andere Ersthelfer kümmern! Die Rettungsschwimmer treten ihren Dienst mit dem aufgelaufenen Wasser an, spannen den weithin sichtbaren signalrotgestreiften Sonnenschirm auf und setzen sich in seinem Schatten auf ihren Hochsitz. Sie arbeiten freiwillig im Auftrag der Allgemeinheit. Die Algen und ihr Gefolge aber arbeiten eigenverantwortlich und sind hochsensible Bioindikatoren. Sie können ihren Teppich nur auf dem trocken gefallenen Wattboden weben und sind dort schadstoffbelasteten Sedimenten schutzlos ausgeliefert. Rückstandsöl lähmt ihre Fingerfertigkeit und Schwermetalle stören die kognitiven Fähigkeiten. Instabile Nuklide oder radioaktive Emanationen bedrohen den Reproduktionserfolg nachhaltig. Bei Hochwasser lassen sie sich deshalb gerne treiben, säubern und umsorgen, sammeln neue Kräfte, neue Impulse, strudeln sich gegenseitig Beute zu und warten auf die Kehrtwende. Sie harren aus, bis die Ebbe den Webstuhl wieder freigibt und hoffen, dass keine toxischen Ablagerungen ihren Knüpftisch verunreinigen. Bei Hohlebbe feiern sie Hochzeit und der Sozialverband jubelt. Die Leistung wird auf ein Maximum hochgefahren und die durchschnittliche Norm um ein Vielfaches übererfüllt. Aber auch der dichteste, stabilste, feinst verschlungene Flor widersteht nicht der nächsten Flut. Der erste heftige Wellenschlag zerstört jeden Teppich. Zweimal am Tag. Jahraus. Jahrein. Unwiderruflich, brutal und ungerührt. Das Salz frisst sich Stück für Stück durch jeden Knoten, löst jede noch so kunstvolle Querverbindung und spült auch den perfekten Speichelkleber der Schlickkrebse weg wie nichts. Opfer müssen gebracht werden, heißt die Devise der Gezeit. Wer schwimmen kann, braucht keinen hochwertigen Fußabtreter im Meer. Und wer nicht schwimmen kann, hat in der überkopfhohen See nichts mehr zu suchen.

Eman Rühl läuft und keucht. Hechelt. Springt. Jagt. Schnappt nach Luft. Die graue Stunde drängt. Die Gezeit drängt. Die Flut drängt. Das Wasser drängt. Die Gefahr drängt von allen Seiten, am Schlimmsten aber unter den Füßen. Der Schlick wird immer schmieriger, immer schwerer, immer schwärzer. Noch haben die Algen nicht aufgegeben. Noch ist ihr Teppich kompakt. Er fängt aber bereits als Ganzes an zu schlingern beim leidlichen Versuch, die Unrast im Wattsockel abzufedern. Noch gelingt es. An tieferen Stellen bilden sich schon Tümpel und Fallen, an höheren liegt noch feinkörniger Sand, Buschsand, Hakensand, Treibsand. Es gibt ein falsches Tief und ein richtiges Tief. Eman Rühl hat nur eine Lunge und nur einen Flügel. Die andere Lunge, oder das, was von ihr übrig ist, bewahrt das Universitätsklinikum Bergmannsheil in Wiemelhausen auf. Für weitere Forschungszwecke, in Formalin eingelegt und beschriftet: Name des Spenders, Kurzfassung der Diagnose, Datum der Entnahme. Eman Rühl röchelt. Schlicklöcher sind unberechenbar. Sie verschlingen halbe oder ganze Beine, zwingen Unschuldige in die Knie, rauben Atem und wertvolle Zeit. Der volle Mond steht im purpurnen Gegenteil und geht unter. Klaglos. Die graue Stunde zeigt ihr wahres Gesicht nie. Sie hat keine Konturen und die Dämmerung verliert in ihrer Gegenwart jede Daseinsberechtigung. Die Sonne hängt noch zwischen den schwarzen Stämmen des Bruchwalds und verschafft Eman Rühl etwas Luft. An der Wattenmeerküste kommt sie von weither und ist nie pünktlich wie die Flut. Auf die Sonne ist kein Verlass, darin besteht die Hoffnung des Tages. Sie geht hinter den Deichen und hinter den Häfen auf. Hinter dem neuen Deich und hinter dem alten Deich, hinter dem neuen Hafen und hinter dem alten Hafen. Hinter dem Getreidesilo und hinter dem einzigen Kirchturm weit und breit. Die Bucht bleibt jeden Morgen lange kühl und schattig, manchmal auch den ganzen Tag. Wenn die Sonne im Landesinnern trödelt. Wenn sie den Verlockungen eines Melkburschen folgt. Wenn ein Flächenbrand droht oder das Maisfeld zu früh abgeerntet ist. Wenn sie auf Steigungsregen wartet, um danach umso strahlender aus dem feuchten Nebel der Lebermoose zu treten. Auch die Sonne ist eitel und duldet keine Konkurrenz. Das erste Licht ist bereits verschluckt. Der Algenteppich sieht plötzlich aus wie ein tiefgefrorener Lachs. Die Nacht ist hin und der Tag noch fern.

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Eman Rühl hat die Fähigkeit, Farben zu sehen, früh verloren oder nie besessen. Der Vater, Othmar Rühl war nach den Turbulenzen in der unteren Amtsstube entschlossen, das Kind zu einem richtigen Mann zu erziehen. Den einmal eingetragenen Vornamen durfte er nicht mehr ändern. Aber er konnte ihn entrunden, beugen, im täglichen Gebrauch verkürzen und mit harter Hand bis zur letzten Konsequenz abrichten. Den öffentlichen Skandal würde er aussitzen. Seiner Dietlinde verbot er jedes weitere Wort und stellte sie unter Hausarrest. Es sei schließlich ein Junge, behauptete Othmar, und der gehöre in die Grube. Zu den Kumpels. Er könne Hilfsarbeiten verrichten, als Lesejunge oder Sauberjunge. An der Klaubertafel. So lange er klein und wendig sei, sei er bestens geeignet, alle Tastlöcher zu finden und zu überprüfen. Mutter Rühl schwieg, wie ihr befohlen. Die Dürmüllertochter kannte das Berggesetz und den Unmut der Männer nur zu gut. Man würde ja sehen, dachte sie, im Dorf und bei der Direktion. Frauen, heißt es, bringen Unglück im Berg. Von Grubenbeben über Dammbrüche bis zu Gasexplosionen war alles möglich. Jederzeit! Technische Probleme bei der Bewetterung, Schlamperei mit den Wassertrögen, was wusste sie schon von den Sicherheitsvorkehrungen in den Stollen. Sie blieb stumm und gefasst. Niemand würde dem Kind den Namen nehmen! Es bekümmerte sie einzig, dass es, kaum konnte es auf den eigenen Beinen stehen, in eine lichtlose Welt geschickt wurde, unter Tage zwischen Schwarz und Weiß aufwuchs, zwischen Kohlenstaub und Bergmannsleinen, mit Schienbeinschonern und Arschleder. Jeden Abend wurde es nach Hause gebracht, begleitet von den Älteren. Und wenn Vater Rühl Nachtschicht hatte, kroch es zur Mutter ins Bett.

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Die feinsten Verästelungen führen schon Wasser und spalten perlend wie Haarrisse das Wattenhoch. Wo sie sich zusammenschließen, legt sich ein klarer Film über den Matsch und über die Schleimknoten. Jungfräulich dünn und durchsichtig! Eman Rühl weicht erschrocken aus, will nicht hinein platzen in eine Pfütze, fürchtet die Sauerei, den Schlamm, das Gespritze. Aber auch die Untiefe ist hinterhältig, der liegende Spiegel, das stehende Gewässer! Eman Rühl setzt an zum Sprung, und setzt über mit letzter Kraft. Das Bild im Boden zittert unentschlossen, bis es endlich den fahlen Himmel fokussiert, ihn herabholt in seiner erbärmlichen Blässe, ihn entthront und verbannt unter das Seekartennull. Die Durchzügler lässt es durchziehen, auch die Wolken. Sie sind in unterschiedlichen Formationen in unterschiedliche Richtungen unterwegs. Die Fressfeinde verlieren schnell die Witterung. Eman Rühl atmet schwer und hebt wieder eine Ferse. Jetzt nur nicht stehenbleiben! Das Sprungbein schwebt in Zeitlupe in die Höhe und das Standbein sinkt in Zeitlupe in den Schlick. Schweiß perlt über den Rücken, der Kopf ist nach vorne gebeugt, die Arme halten angewinkelt das Gleichgewicht. Das Haar fällt über die Stirn, verschattet das Gesicht, verbirgt die gewaltig schwankenden Brüste, die ganze nackte Gestalt und das Geschlecht, so lang und dicht ist es, das Haar, weiß oder silbern, aber eigentlich durchsichtig. Mit einem Ruck und einem noch nie gehörten Schrei zieht Eman Rühl das Bein hoch. Die Schafe auf dem Deich heben die Köpfe. Ein schwarzer Stiefel hängt am Fuß! Der zweite wartet bestimmt im nächsten Hinterhalt, im nächsten Schlickloch und ist vielleicht signalgelb. Es stinkt nach ungekochten Eiern. Eman Rühl hat noch nicht gefrühstückt. Der Schlick lebt und ist hungriger als ein Wal. Nun hebt Eman Rühl den gestiefelten Fuß, und der andere sinkt. Bloß und unbesohlt. Die Wolken lösen sich unvermittelt auf. Die Wildgänse fliegen in die Tundra. Auch Tretmühlen sind ein Zeichen der Zeit. Halbflüssiger Schlick quillt durch die Zehenzwischenräume. Es sind Webfehler oder Schlagwerke.

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Wenn Vater Rühl von der Nachtschicht nach Hause kam und das Kind im Bett der Mutter fand, schlug er es halbtot. Er zog es mit seinen ungewaschenen Pranken unter der Decke hervor, setzte es auf die Bettkante und ohrfeigte es von links und von rechts so lange, bis es ohne zu stottern „Guten Morgen, Papa!“ sagte. Der Bub – es war ja ein Bub! – musste sich ausziehen, den bettwarmen Schlafanzug ordentlich zusammenfalten und die Beine spreizen. Othmar Rühl packte es, das Ding, das er gezeugt, im Schritt, schob den Daumen in den Spalt vorne und den Mittelfinger in das Loch hinten, hob und schüttelte das Bündel, das keinen Laut mehr von sich gab, und prügelte ihm das Eli Eli aus dem Leib. Er schlug mit der Linken, die Rechte war ins Gesäß verkrallt, blut- und kotverschmiert. Für jeden Tropfen Urin gab es mindestens zehn zusätzliche Knüffe in den Bauch, auf den Kopf, in die Rippen. Dietlinde presste die Fäuste auf die Ohren und drehte sich zur Wand. Sie wusste, dass sie als nächste an der Reihe war. Das Kind wusste es auch. Es wusste alles. Lossagen! Schrie der Vater und ließ das Kind los. Er schüttelte voller Ekel seine rechte Hand aus. Das Kind schlug wie ein Stein auf den Holzdielen auf. Etwas krachte und splitterte. Das Kind regte sich nicht mehr. Der Vater trat es mit den Füßen, rollte es hin und her. Lossagen! Wiederholte er mit gepresster Stimme. Lossagen! Zischte er. Immer leiser. Immer schärfer. Lossagen! Von jedem Eli Eli, von Bindestrichen, Gedankenstrichen, Spiegelstrichen. Und allen anderen Strichen. Lossagen von dem ganzen Blödsinn. Lossagen!!! Brüllte er noch einmal aus voller Brust und fiel vornüber.

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Der blaue Priel rauscht bereits wie ein wahrer Strom. Es ist das letzte Hindernis auf dem Weg zum grünen Deich. Zu der Badetreppe an deren oberen Ende eine Fußdusche installiert ist! Eman Rühl hält vor dem Priel inne und holt tief Luft. Der Priel ist breit und tief. Die erste Rinne, die mit dem auflaufenden Wasser befahrbar wird. Für die Segelboote und die Krabbenkutter. Für die Küstenwache und den Seenotretter. Für alle Ungeduldigen. Für die Himmelsboten, Sternschnuppen, Geisterseher, Geistheiler, die Einflügelschweife und doppelten Regenbogen. Die verbliebene Lunge ist auch angegriffen. Vor verstopften Bläschen haben die Doctores gewarnt und Eman Rühl ins Reizklima geschickt. Aber sogar das Atmen auf Normalnull fällt schwer. Eigentlich streift Eman Rühl nur den äußersten Rand des Spektrums und folgt strikt der Vorsehung. Nie einer Verordnung oder Versuchung. Der blaue Priel muss durchschritten werden. Eman Rühl hebt ergeben die Hände und steigt hinein. Zuerst mit dem Schwarzen, dann mit dem Gelben Bein. Die Sohlen der Gummistiefel sind dick und schützen die Füße vor den skalpellscharfen Austernschalen. In der Mitte ist das Schlimmste überstanden, der Sog ist arg und zieht nach links, nach Süden. Eman Rühl ist ärger, arglistiger und beginnt den Anstieg ans andere Ufer. Die Arme rudern. Wind kommt auf vom Land und teilt das Haar, das Gleichgewicht, das freie Magnetfeld und den Lagerraum des Eisenwarenhändlers. Positionslichter blinken und legen falsche Fährten, zerstreuen die Reflexstreifen der roten Tide, verteilen uralte Abgaswolken, Feuerquallen, Leuchtsignale. Schicken Irrläufer über Irrläufer ins Watt. Überreste des letzten Wellengangs. Oder Vorläufer der letzten Generation.

III

Hinter dem Deich verbreiten ganz normale Straßenlaternen elektrisches Licht. Die Sonne ist noch nicht da. Das Hafengelände ist aus Sicherheitsgründen an das Stromnetz angeschlossen. Der Hafenmeister steckt sich gerade die erste Zigarette an. Er ist auf dem ersten Rundgang, vor dem ersten Kaffee. So sind die Vorschriften. Die Tore sind offen, aber vom Wasser ist weit und breit nichts zu sehen. Es herrscht absolute Stille. Kein Wind! Die Segler, denkt der Hafenmeister, können frühestens in drei Stunden losmachen. Sie schlafen noch. Er spuckt ins Hafenbecken und kehrt zurück in seine Kammer. Falls sie dann noch losmachen können! Erklärt er sich selbst. Hier kann ihn niemand hören. Er setzt Wasser auf, schnippt die Asche in den Ausguss, drückt den Stummel darüber aus und füllt die Kaffeemühle. Er brüht jeden Morgen eine Kanne Kaffee aus frisch gemahlenen Bohnen. Die reicht bis zum Mittag. Die Mühle ist aus Holz und funktioniert von Hand. Ein Vermächtnis der Familie. Er dreht geduldig die Kurbel, bis das Wasser kocht. Dann zieht er die kleine Schublade heraus und nickt zufrieden. Jeden Morgen dasselbe Prozedere. Das Pulver ist perfekt, nie zu fein, nie zu grob. Er kippt es in den Filter und gießt das sprudelnde Wasser darüber. Bis es durchgelaufen ist, will er Nachrichten hören. Er schaltet den kleinen Weltempfänger ein. Es knistert und rauscht. Der Hafenmeister flucht und hustet. Er dreht am Regler, stellt das Gerät ans Fenster, richtet die Antenne aus. Vergeblich. Aus allen Himmelsrichtungen kommt nur unverständliches Rauschen und Knistern. Alle Frequenzen sind gestört.

Die Schafe auf dem Deich tragen noch ihre Winterwolle. Solange sie genug Futter finden, ist ihnen weder kalt noch warm. Ich sitze mit angezogenen Knien neben ihnen. Kaffeeduft zieht vom Kontrollturm herüber. Also ist der Hafenmeister da und bin ich nicht allein. Aus alter Gewohnheit zähle ich Seevögel. Sie stochern nach Würmern im Watt. Das Wasser ist noch nicht da. Sie müssen, wollen sie nicht elendiglich zu Grunde gehen, ihren Hunger am Wattenmeer zuweilen mitten in der Nacht stillen. Sich der Gezeit unterwerfen, auch sie. Bei tiefster Dunkelheit oder mitten am Tag Nahrung suchen. Auf dem eiskalten oder zur Mittagszeit glühend heißen Wattboden. Sie müssen ihren Schlaf- und Wachrhythmus an den Rhythmus des auf- und ablaufenden Wassers anpassen. Zufällig Zugeflogene, Immer Wieder Durchziehende oder Eingewanderte lernen erstaunlich schnell und geben über Generationen Kodiertes sofort widerstandslos auf. Bei Gefahr stellt sich automatisch ihr Ruhepuls ein. Nur der Instinkt erkennt Gesetzmäßigkeiten. Die Vögel verschwinden rechtzeitig vor jedem Hochwasser und verkriechen sich bei den Marschbauern, hocken in den Kartoffeläckern oder hinter riesigen Scheunentoren. Sturm ist angesagt. Ich weiß es. Aber noch fressen die Austernfischer. Die Warnmeldungen sind bereits veröffentlicht. Die Menschen im Hinterland sollen Fenster und Türen schließen und in ihren Häusern bleiben. Kaum zu glauben! Nicht das leiseste Anzeichen von einem aufbrausenden Gemüt. Von Orkanböen, turmhohen Wellen. Wer kein Haus hat, braucht jetzt keines mehr! So weit das Auge reicht, pure Gottverlassenheit! Nur Eman Rühl, zwischen zwei Sprüngen, schon zum Greifen nahe, hängt schräg in der Luft mit seltsam fuchtelnden Armen und strampelnden Beinen. Ich traue meinen Sinnen nicht. Ein Kind? Ein Flugobjekt? Ein Speiklumpen? Der eine Fuß ist gelb, der andere schwarz. Das Haar tropft grün zu Boden. Ein bunter Vogel? Ich traue meinen Augen nicht und schließe sie. Die Stille trügt, der Schein trügt. Die graue Stunde trügt. Der grüne Schimmer trügt. Es sind Leuchtalgen aus dem Kronenloch. Sie schwimmen vor Tagesanbruch im blauen Priel, auch sie! Eman Rühl hat ihn durchquert und ist fast in Sicherheit. Es ist noch nicht ganz hell!

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Über die Jahre wuchs das Kind zu einem guten Kumpel heran. Es kannte nichts anderes als die Arbeit unter Tage. Es fürchtete das Licht mehr als die Schläge. In die Schule wurde es geschickt, bis die Brüste zu wachsen anfingen. Der Name schrumpfte kontinuierlich. Zunächst in den Hänseleien auf dem Pausenhof. Dann in der Stechuhr. Sobald es nicht mehr Kinderarbeit leistete wurde es bezahlt für jede Stunde. Auf den Lohnblättern der Grube war kein Platz für einen Vornamen. Die Bergleute wurden mit Initialen geführt. OR war Rühl der Vater, ER Rühl das Kind. Sag ich’s doch, triumphierte der Vater, als ihm das Kind das erste Geld ablieferte. ER ist ein Bub! Ein Mann!

Der Klärteich brach an einem späten Sonntagnachmittag ein. In der Grube wurde rund um die Uhr an sieben Tage der Woche gearbeitet. Othmar Rühl verrichtete gerne Sonntagsdienste, wenn’s sein musste auch doppelte Schichten. So konnte er einen fetten Zuschlag einstreichen und musste den Tag nicht mit der störrischen Familie verbringen. An jenem Sonntag hatte er die Frühschicht einem Kumpel abgetreten, der zu Schwiegermutters Geburtstagstafel geladen war. Geh nur, lachte Othmar, wenn Dir das Spaß macht! Und sie machten es wie immer. Unkompliziert. Unter sich. Tauschten am Vortag die Karten und der eine stempelte sich als der andere ein und der andere als der eine aus. Wasser und Schlamm füllten die Grube so schnell, dass nur die Wenigsten sich selbst retten konnten. Andere wurden nach Tagen, einige sogar nach Wochen noch lebend gefunden. OR befand sich offiziell zur Zeit des Unglücks in keinem der gefluteten Schächte. Er ward nie wieder gesehen. IV wurde als einer der letzten mit der Dahlbuschbombe geborgen.

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Eman Rühl hat die Kehrtwende vor sich und hebt rechtzeitig von der obersten Stufe ab. Das eine Dreieck ist rot umrandet und warnt in schwarzen Lettern auf weißem Grund in deutscher Sprache vor der Pazifischen Auster. Das andere ist ganz gelb ausgemalt. Ockergelb. Es zeigt ein Piktogramm. Eine dünne Strichfigur, keinem Lebewesen in keiner Galaxie ähnlich. Jeder Schwerkraft spottend schwebt sie über einer waagerechten Linie. Eman Rühl ist ein im Universum verschwindender Punkt.

© Judith Arlt 9/2023

Erschienen unter dem Titel „Vorsicht Rutschgefahr“ in der Anthologie „Hoffnung“, Edition 8 Geschichten. Weinheim, Achter Verlag 2023, S. 77-96. Portofrei (innerhalb D) zu bestellen hier.

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch