Vom Luxus

Vom Luxus der Sprache

Es hat mir die Sprache verschlagen. Ich habe die Sprache nicht verloren, son­dern etwas – aber was? – hat sie mir verschlagen, zerstückelt und die spitzen Kanten in alle Winde gefegt. Das ist verheerend. Denn hätte ich die Sprache verloren, wäre ich nun stumm und erlöst von der Qual, mich ausdrücken zu müssen. So aber rätsle ich nächtelang, ob Nerven­schleifen in meinem Hirn gerissen sind und ich krank bin. Ob ich an Leitungsaphasie leide. Seit Längerem re­gistriere ich Wortfin­dungsstörungen und Schwerhörigkeit sowie eine zunehmend aggressiv auftretende kognitive Intole­ranz. Mein Bewegungsapparat hingegen funktioniert tadellos. Also nahm ich an dem Morgen, als ich nicht mehr wusste, wie das schwarze Tier in meinem Hausflur heißt, Bleistift und Papier zur Hand, setzte mich an den Küchentisch und schrieb:

E S H A T M I R D I E S P R A C H E V E R S C H L A G E N

Das kostete mich einige Mühe. Instinktiv malte ich die Buchstaben in Majus­keln und reihte sie nahtlos aneinander. Ich erkannte die Wörter nicht mehr als souveräne Einheiten der Sprache und schwitzte wie ein Kind am ersten Schultag. Der Speichel hing an einem langen Faden von der Unterlippe, ab und zu fiel ein dicker Tropfen auf das Papier. Wie gut, dass ich keine Füllfeder benützte! Eigentlich bin ich eine geübte Bergsteigerin und frei von Höhen­angst. Aber an jenem 24. Februar zitterten meine Knie so heftig unter der Tischplat­te, dass mein letzter soziokommunikativer Akt für Wochen, Monate, wenn nicht Jahre, in ein beschämendes Gekrakel ausartete. Trotzdem halte ich die­sen Zettel nun hoch, wenn das Telefon klingelt, E-Mails in meinem Postfach landen oder der leibhaftige Briefträger vor der Tür steht.

Vom Luxus der Gewehre

Im Haus, in dem ich aufgewachsen bin, standen drei Armeegewehre in der Gästetoilette. Gut geölt glänzten sie wie nasse Regenschirme. Wir hatten sel­ten Gäste und die wenigsten suchten dieses Örtchen auf. Im Spiegelschrank über dem kleinen Händewaschbecken stapelten sich Patronenschachteln mit der scharfen Munition für die drei Gewehre. Die Männer des Landes, in dem ich aufgewachsen bin, sind alle wehrdienstpflichtig. In meiner Kindheit mussten sie ihre militärische Ausrüstung zu Hause aufbewahren. Das Gewehr, die Munition, die Uniform, die Stiefel, den Helm, eine Blechdose mit trockenen Keksen, die Gamelle, die Feldflasche, den Kaputt und wie die Dinge alle hießen. Im Falle einer Generalmobilma­chung hätten sie innerhalb von zehn Minuten zusammengerafft, übergezogen oder eingerollt auf den Rucksack geschnallt werden müssen. Mutter schrie Ze­ter und Mordio, als Vater sein frisch geschmiertes Schießeisen im Schlafzim­mer im Kleiderschrank verstauen wollte. Er gab nach, um des lieben Frie­dens willen, wie er sagte, und lehnte das Gewehr in eine Ecke der Gästetoilette. Mein älterer Bruder tat es ihm irgendwann gleich, und später der jüngere. Vater war zudem Sportschütze und machte das Schießen zu seinem Vergnü­gen. Er muss auch eine Pistole zu Hause aufbewahrt haben, ich kann mich aber nicht erinnern, wo. Der ältere Bruder blieb nach der Rekrutenschule in der Armee und machte das Schießen zum täglich Brot. Krieg hat er in seiner ganzen Milizio­närszeit nur als taktisches Spiel mitgemacht, oder später selbst inszeniert, versteckt im malerischen Gebirge oder auf asphaltierten Exerzierplätzen unter einer gnadenlosen Sonne. Bei den Scheingefechten schossen die Soldaten mit scharfer Munition auf Pappfeinde. Der jüngere Bruder hasste das Schie­ßen. Trotzdem musste er regelmäßig zu Wiederholungskursen einrücken und seine Schießfertigkeit unter Beweis stellen. Uns Frauen, der Mutter, der Schwester und mir, blieb der Wehrdienst versagt. Sonst hätten in der Gäste­toilette doppelt so viele Gewehre und im Spiegelschrank über dem kleinen Händewaschbecken doppelt so viele Patronenschachteln unterkommen müssen.

Vom Luxus der Sprache II

Vom Land, in dem ich aufgewachsen bin, sagt man, es kenne keinen Krieg. Das ist natürlich Unsinn. Jedes Land kennt Krieg und meine Vorfahren waren gut bezahlte Haudegen. Die letzten dieser Spezies bewachen heute den Heili­gen Stuhl, bewaffnet mit aus der Zeit gefalle­nen Parierstangen, Flambergen oder Rapières. Jedes Land verfügt über Streitkräfte und eine Streitkultur, un­abhängig davon, ob Krieg ist oder nicht. Jedes Land hat seine eigene Sprache und besitzt sein eigenes Wort für Krieg, auch wenn es diesen angeblich nicht kennt. In allen slavischen Sprachen ist der Krieg weiblich, aber nur in einem Land steht die Verwendung dieses weiblichen Substantivs – война – jetzt un­ter Strafdrohung. Das Land aber, in das ich ohne mein Zutun in ein Haus mit Gewehren in der Gästetoilette hineingeboren wurde, ist neutral und verbietet keine Wörter. Es akzeptiert im Gegenteil mehrere Wörter für Krieg, denn es hat mehr als nur eine Landessprache. Dort ist der Krieg männlich und weiblich.

Vom Luxus der Gewalt

Mein Schwiegervater wurde auf einer Intensivstation des größten deutschen Universitätsklinikums ermordet. Die deutsche Rechtsprechung – nicht die deutschen Rechtschreibung! – verbietet mir, dieses Wort zu verwenden. Zwar wurde die Täterin wegen mehrerer Patientenmorde zu lebenslanger Haft ver­urteilt, aber im Falle meines Schwiegervaters fehlte dem Gericht eines der Mordmerkmale. Im juristischen Sinne wurde Schwiegervater „nur“ getötet und nicht ermordet. Bezahlt hat er trotzdem mit dem Leben. Für uns Hinterbliebene bleibt seine Mörderin eine Mörderin. Auch wenn sie keine Spuren hinterließ und ihre Taten lange unentdeckt blieben. Das Blut stockte Schwiegervater augenblicklich in den Adern und uns stockte der Atem. Die sterblichen Überreste wurden eingeäschert und beigesetzt. Das Gift der Giftmörderin hätte in diesem Giftmord nie und nimmer nach­gewiesen werden können, wenn die erst nach Monaten Festgenommene nicht im ersten Verhör ohne Not und gegen den Willen ihres Pflichtverteidi­gers mit geschwellter Brust berichtet hätte: Ja! Selbstverständlich! Schwie­gervaters Leben beendet zu haben! Er war der Erste.

Gerade das glaube ich ihr nicht. Nach der Lektüre einiger Hundert Seiten Ge­richtsakten verschlug es mir auch damals die Sprache. Jeden einzelnen Buch­staben musste ich rund um den Erdball aufspüren und wieder zum Dienst in meinem Sprachzentrum verpflichten, um Schwiegervaters von äußerster Ge­walt bestimmten Sterbeakt minutiös nachzeichnen zu können. Die Besessen­heit einer Berliner Krankenschwester steht dem Blutrausch der Orks und Ra­schisten und wie die Bestien alle genannt werden, die ihr Unwesen treiben in Буча, Ірпінь, Бородянка, in Бердянськ, Суми, Вугледар, in Мангуш, Марiуполь, Миколаїв, in Харків, Чернігів, Охтирка, in Дніпропетровськ, Сєверодонецьк … und wie die Schädelstätten alle heißen, in nichts nach. Der Unterschied be­steht nur darin, dass die Schlächter, die Fléchette-Granaten und Vakuum­bomben über Fluchtkorridoren, Entbindungskliniken, Bahnhöfen, Waisen- oder Warenhäusern abwerfen und Fahrradfahrerinnen in den Rücken schie­ßen, für ihre Taten Orden an die Brust geheftet bekommen, während die Mörderin meines Schwiegervaters hinter Gittern landete.

Vom Luxus des Narrativs

Die Sprache ist biegsam wie der kindliche Körper einer Eiskunstläuferin. Die Sprache versagt sich niemandem. Es sind unsere Köpfe, die versagen und die Knie, die zittern. Mir hat es die Sprache verschlagen, aber das Narrativ be­herrscht die Welt. Jeder Naseweis, jeder kleine oder große Gauner beruft sich auf sein Narrativ und kommt ungeschoren davon. Eine Politikerin geht in die Annalen ein mit dem Narrativ der Alternativlosigkeit, ihr Kollege mit dem Nar­rativ der Alternativen Fakten. Beide Begriffe finden Asyl in der deutschen Un­wortliste. Ich kenne „narrativ“ noch als Adjektiv aus der Zeit, in der ich das Haus mit den Gewehren in der Gästetoilette gegen eine Frauen-WG einge­tauscht hatte. Im Hörsaal hörte ich, „narrativ“ sei die Sprache der Literatur, des Fabulierens, der Fiktion. Ein „narrativer“ Text sei frei und sein Inhalt müsse keiner Überprüfung nach moralischen Kriterien unserer empirischen Welt standhalten. Der Mehrwert eines narrativen Textes liege in der Poetik, in einer die Seele anrührenden ästhetischen Umsetzung. Heute streuen unserer Mitmenschen schamlos toxisches wie nicht toxisches Gedankengut in die Anbauflächen der geistigen Welt. Das Narrativ ist mo­disch und demokratisch. Es gehört allen, auch Altmodischen und Undemokra­tischen. Der (noch) amtierende Kremlchef wurde vom sowjetischen Geheim­dienst sozialisiert. Das ist wahrlich kein Geheimnis. Er unterlag dem Drill der sogenannten „aktiven Schritte“ oder „aktiven Maßnahmen“ (in der Sprache des KGB активные мероприятия, engl. active measures) – einem Euphemi­smus für ideologische Subversion. Desinformation ist die Sprache des Ge­heimdienstes. Sie will nicht informieren, sondern Menschen gezielt verwirren, gegeneinander aufhetzen und ganze Gesellschaften spalten. Die Idee, Macht mittels fake news zu generieren, ist über hundert Jahre alt und und vernebelt genauso lange erfolgreich das Denken der halben Menschheit. We­der die Desinformierten selbst, noch eine deutsche Unwortliste bekommen et­was davon mit. Der Moskauer Kriegstreiber joggt durch die finstere nordsibirische Waldtundra und trägt das Pedome­ter am Knöchel wie ein Gefangener die Kette. Es zählt seine aktiven Schritte und misst den Puls, warnt vor Unterzuckerung oder Dehydrierung. Der größte Feind dieses Auslaufdauerläufers ist der Komiker aus Kiew. Der beherrscht die hohe Kunst eines altertümlichen Erzählens und hat gelernt, sein Publikum hinter die Fassaden zu führen. Sein Narrativ überrascht und entblößt, sein Gesicht geht gut ausgeleuchtet viral, seine Mimik berührt in Nahaufnahmen. Angenehm oder unangenehm. Er kon­frontiert und uns bleibt das Lachen im Hals stecken. Für Wochen, Monate, wenn nicht Jahre.

Vom Luxus der Freiheit

Die Mörderin meines Schwiegervaters hat ihre Strafe abgesessen und ist frei. Nach wie vor ist sie der Ansicht, das deutsche Strafgesetzbuch und die Zehn Gebote müssten umgeschrieben werden, ehe sie vor das Jüngste Gericht trete. Ihr oberster Chef bezeichnete damals vor dem Berliner Landgericht seine Kran­kenstation als „letzte gewaltfreie Zone unserer Gesellschaft“. Auch an seinem Narrativ dürfte sich kaum etwas geändert haben. Ich bin in einem vierspra­chigen Land groß geworden. Bei uns zu Hause wurde laut und heftig gestrit­ten. Aber nie griff einer der Männer zu seinem geladenen Gewehr in der Gästetoilette. Wir Frauen beherrschten das Arsenal der anschwellenden Töne. Mein älterer Bruder verbrachte seine letzten Dienstjahre damit, die sauber geputzten Schießeisen aus den Privatwohnungen seiner Soldaten einzusammeln. Im Land, in dem ich nicht mehr lebe, hatte man endlich erkannt, dass Gewehre im Kleiderschrank nichts Gutes bringen. Es war die letzte logistische Herausforderung für den Oberst, Waffen und Mu­nition so zu verwahren, dass niemand vorzeitig darauf zugreifen konnte, im Falle eines Aufgebots aber jeder nach spätestens 10 Minuten den Finger am Abzug hielte. Ganz nebenbei stieg er noch zum Filialleiter eines sogenannten Army Liq-Shops auf. In seinem Zeughaus türmte sich nämlich plötzlich „obso­letes“, wie es hieß, „gut erhaltenes“ und „zum Teil neuwertiges“ Armeematerial, das die Soldaten auch nicht mehr zu Hau­se haben wollten und ihrem Vorgesetzten vor die Füße warfen. Der verhöker­te es zu Spottpreisen an Handwerker, Pfadfinder, Handarbeitslehre­rinnen, Fasnachtsclicken oder Chienbäsenträger – und verabschiedete sich in den wohlverdienten Ruhe­stand.

Vom Luxus der Sprache III

Treibt meine semantische Demenz gerade die schönsten Blüten? Bin ich da­bei, scharfe Kanten rundzufeilen oder setze ich hier wahllos Wörter nebenein­ander, die kein freundliches Umfeld mehr kennen? Fasele ich von Dingen, die es überhaupt nicht gibt, wie zum Beispiel das Unrechtsbewusstsein? Im Flur kommt mir Rasputin entgegen, mein nierenkranker Kater, für den ich einst einen Trinkbrunnen mit Bewegungsmelder angeschafft habe – aus, wie ich erst jetzt beim Säubern an der Unterseite ablese, ukrainischer Produktion. Das Plätschern setzt ein, wenn das schwarze Tier vorbeiläuft und soll es animieren, innezuhalten, die Ohren zu spitzen und zu trinken. Ist das die Zukunft des Wohlstands oder das Ende des Wachstums? Eine zufällige Kauflaune oder Konsumrausch pur? Ein verbaler Schlagabtausch? Wer erinnert sich noch an die Fahrraddiebe im Kino? An das Überhandnehmen der Eskalation. An verwüstete Dörfer und vergewaltigte Mädchen. An den leergefegten Militärmarkt. Das verpulverte Vermögen. Den Händewaschzwang. Pontius Pilatus! Mein Testament. Eine Farce.

© Judith Arlt 2023

Schriftstellerin | Übersetzerin | deutsch und polnisch